IM ERSTEN WAGEN
: Mit Vorsicht drängeln

Aber es sieht auch keiner richtig hin

Big Hair ist schon da – also bin ich rechtzeitig. Sie steht in der frühen S-Bahn im ersten Wagen, nahe der Tür, fast unbeweglich, den hohen Turm ihrer eigenen (und wohl auch fremden) Haare vorsichtig auf dem Kopf balancierend, die Wirbelsäule gerade. Die S-Bahn aber, die sie jeden Morgen benutzt, ist ein Kurzzug, und deshalb stürzen an den Bahnsteigen gleich immer mehrere Menschen auf diese Tür zu, die, verträumt oder verschlafen wie ich auch, auf eine längere S-Bahn gewartet haben und nun rennen müssen. Also drängelt man sich etwas abgehetzt um sie herum, mit einem winzigen Sicherheitsabstand. Riskieren, die Haartracht da oben durch einen unbedachten Stoß ins Wanken zu bringen, will wirklich keiner.

Aber es sieht auch keiner richtig hin. Man will ja Großstädter sein, der sich über nichts wundert und nicht aus der Fassung zu bringen ist. Großer Auftritt schon am frühen Morgen? Keine Braue hebt sich. Die Zeitungen, die beim Warten auf die S-Bahn hoffnungsfroh aus Rucksäcken und Aktentaschen genommen wurden, bleiben eingeklemmt unter den Achseln, zum Lesen reicht der Platz wieder nicht. Die Blicke gleiten an allen ab.

Fährt aber ein längerer Zug ein, in dem sie nicht im 1. Wagen steht, heißt das, ich bin zu spät. Dann stehen Fahrräder quer hinter den Türen und wieder laufen andere und ich, um eine unversperrte Tür zu finden. An Tagen ohne sie muss ich mich beeilen auf dem letzten Stück Weg zu Fuß, vorbei an Hotels, deren Gäste noch etwas müde über ihre kleinen Frühstückstabletts gebeugt auf sparsamen Hockern hinter den Frontscheiben aufgereiht sitzen. Die haben sich von einem Trip nach Berlin sicher etwas Opulenteres erwartet, als Frühstückstabletts, die mit aufgeteilten Fächern nach Mensa 1978 Westdeutschland aussehen. Ich hoffe dann immer, die Stadt entschädigt noch für diesen mickrigen Anfang.

KATRIN BETTINA MÜLLER