Da helfen nur noch Lieder

TANZTAGE Ein Trend geht um im zeitgenössischen Tanz. Ständig wird gesungen, mal mehr, mal weniger dilettantisch. So demonstriert man Offenheit und Mut zur Präsenz. Das kann aber auch schnell zur Pose werden

Das Selbstverständnis der zeitgenössischen Tanzperformance ist oft weniger das eines Repräsentierens als das einer forschenden Präsenz, mit deren Hilfe ein Themengebiet ästhetisch verhandelt werden kann

VON ASTRID KAMINSKI

Tanzen ist Singen, wenn auch nicht unbedingt Richtigsingen. Aber was ist schon richtig oder falsch? Auf den 22. Nachwuchs-Tanztagen in den Sophiensælen lässt Tatiana Mejia ihre Stimme in archaischen Phonemen durch den Raum schwellen, bis sie sich, von Körperzuckungen in Mitleidenschaft genommen, zu animalischen und elementaren Lauten zusammenzieht, irgendwo zwischen Kakaduschrei, Hundewelpenjaulen und Schwefelglucksen.

Mejia ist längst nicht die Einzige, die singt oder singen lässt. Nevo Romano überlässt den Part dem Publikum, indem er uns einen einfachen Dreiklang zuspielt, mit dem wir, größtenteils inbrünstig, einen Teil der komplett kleiderfreien Performance musikalisch untermalen. Wann immer Romano dirigentenhaft die Luft von unten nach oben stemmt, lassen sich die Publikumsmusiker gar zu einem vernehmlichen Crescendo ermutigen.

Komplett ironiefrei schön singt sich dagegen Michiel Keuper mit Songs von Patti Smith & Company durch ein Kuschelkonzert mit tanzendem Boytoy. Auch Dani Brown, die den Teufel in Person darstellt, gibt sich, geht es ums Singen, nicht so garstig. Sie begleitet ein paar ihrer Steppschritte mit einer Art asiatischem Mantragesang. Und Willy Prager, die bulgarische Performancenachwuchshoffnung, lässt keine fünf Minuten verstreichen, ehe er ein volksmusikalisch durchsetztes, hinterbalkanisches Gutelaunelied durchs Mikro schmettert, wobei letztere Einordnung bitte ohne jede Gewähr zu verstehen ist. Sicher ist, dass Pragers Gesang zu einem Zeitpunkt der Performance stattfand, als auch das Publikum noch gute Laune hatte, während es später, zu Beats aus dem Gettoblaster, in Scharen den Raum verließ.

Vielleicht kann diese Sangesfreude neben der allgemeinen verbalen Kommunikationsfreude – kaum eine Darbietung dieser Tanztage kam ohne Text aus – als eine Erweiterung der dilettantischen Mittel gelesen werden, mit denen etwa seit Judson Church die Loslösung des Tanzes vom Tänzer vollzogen wird. Gesangseinlagen sind im tanznahen Performance- und Stückekontext nicht unbeliebt.

Einerseits liegt der Gesang durch seine Anbindung an Körper, Atem, Rhythmus und Phrasierung nah an den klassischen Kunstmitteln des Tanzes. Andererseits konzentriert er wie jede musikalische Darbietung die Aufmerksamkeit der Hörer auf die Virtuosität oder eben deren Fehlen. Im Gebrauch von Dilettanten kann der Gesang dafür stehen, dass hier jede Repräsentationshaltung, jede bloße Wiedergabe eines abgeschlossenen Kunstwerks mit definierten Rollen von Anfang an untergraben werden soll.

Denn das Selbstverständnis der zeitgenössischen Tanzperformance ist oft weniger das eines Repräsentierens als das einer forschenden Präsenz, mithilfe deren ein Themengebiet dynamisiert und ästhetisch verhandelt werden kann. Vielleicht wird nun, da die Unterscheidung in professionell tänzerische Mittel und dilettantischen Bewegungseinsatz unscharf geworden ist, auf den Gesang als Positionierungsmarke ausgewichen. Das ist insofern nicht unproblematisch, als die Repräsentationsverweigerung so selbst zur Pose wird. Wobei auch das zum Prinzip erhoben werden kann.

Ganz ohne tanzferne Hilfsmittel kam Marysia Zimpel aus, die im Rahmen eines polnischen Soloprojekts auf den Tanztagen zu Gast war. Sie entwickelte einen puristischen Minimal-Dance auf der Vertikalen und Horizontalen, dabei im Gebrauch der Mittel und Umgang mit Präsenz sehr heutig. Ebenso entschieden in der Konzentration auf Auswahl und Durchführung der Mittel präsentierten sich ein israelisches und ein israelisch-französisches Team. Der bereits erwähnte Publikumsdirigent Nevo Romano zeigte zusammen mit Shani Granot unter dem Titel „An hour with All-Eaters“ körperbetontes Tanztheater im radikalen Nudismus belgischer Schule. Eine Studie zwischen Penisgeigen und Bachs Soloviolinsonaten, zwischen Natur und Kultur, stark choreografiert und doch sehr kommunikativ.

Anna Jarrige, Naama Ityel und Roni Katz wählten dagegen die Ästhetik einer Lecture-Performance, mit der sie, vielleicht angelehnt an Laurent Chétouane, den Akt des Sprechens und die Differenz zwischen Ding und Bezeichnung auf sympathische Art unter die Lupe nahmen. Mal angenommen, Europa läge, wie die Performer fabulierten, tatsächlich „somewhere in the Middle East“, dann wäre der bei den Tanztagen inflationäre Gebrauch des Wortes „Revolution“ gar nicht so exotisch, wie es in einigen anderen Nachwuchsproduktionen in den ausverkauften Sophiensælen zuweilen schien.