Wir lassen lesen
: Das Leben als Strampeln

Charly Wegelius: „Domestik. Das wahre Leben eines ganz normalen Radprofis“. Covadonga-Verlag, 304 S., 16,80 €

„Er ist unwürdig. Er ist bloß ein Domestik.“ Dies verkündete einst Henri Desgrange, Gründer der Tour de France. Er geißelte das Verhalten des Radfahrers Maurice Brocco, der, als klar war, er würde die Rundfahrt im Jahre 1909 nur im Mittelfeld beenden, den Spitzenreiter Francois Faber gegen eine Zahlung unterstützen wollte. Der Deal flog auf. Und im Peloton, in dem seinerzeit noch keine Mannschaften fuhren, sondern nur wackere Einzelkämpfer, geriet Brocco in Verruf. Die Leiden, die ein Tour-Fahrer auf sich nehmen musste, waren monströs – und vor über 100 Jahren unteilbar.

Seit dieser Zeit hat sich in der Szene einiges geändert. Einer dergrößten Paradigmenwechsel, der stattgefunden hat, ist vielleicht, dass der Domestik heute ein höchst angesehener Pedaleur ist, ein Könner in seinem Fach, der für den Kapitän einer Mannschaft vieles möglich macht. Er ist Dienstbote auf Pneus. Ein Butler im Sattel. Er ist Gedankenleser, Erfüllungsgehilfe, Windschattenspender und Derny, also ein Schrittmacher in der Ebene und am Berg. Man bezeichnet ihn auch als Wasserträger, weil er buchstäblich viele Flaschen Wasser trägt, vom Mannschaftswagen zu den Kollegen im großen Fahrerfeld.

So ein fleißiges Helferlein war auch der Engländer Charly Wegelius. Der Rennfahrer, der für Mapei und Liquigas fuhr und auch für einen kleinen italienischen Rennstall, hat ein sehr erhellendes Buch über seine Zeit als Dienstbote im Profiradsport geschrieben. Es führt die Erzählung von Paul Kimmage („Raubeine rasiert“, ebenfalls Covadonga) fort, eines irischen Kollegen, der auch von einer eher radfernen Insel aufs europäische Festland wechselte, mit großem Enthusiasmus seine Karriere begann – und sie recht frustriert beendete.

Wegelius war begabt, hätte sicherlich auch das Zeug zum Siegfahrer gehabt, aber in seiner gesamten Profi-Laufbahn gelang ihm kein einziger. Zweimal war er nah dran, doch immer zog ein anderer vorbei, so gnadenlos und simpel, wie der Radsport nun einmal ist. Der Stärkere gewinnt. Der zweite Platz ist so gut wie wertlos. Die etwas Schwächeren müssen sich andere Rollen und Nischen suchen. Und Wegelius, der als Jugendlicher noch viele Rennen gewann, arrangierte sich damit, ein Domestik zu sein. Er trug die Monstranz, die Spitzenfahrer für ihr Ego hielten. Seine Chefs hießen Sergej Gontschar oder Danilo de Luca.

Muss man der Typ sein für solche Opfergaben. Charly Wegelius war offenbar wie gemacht dafür, so grüblerisch, oftmals selbstanklagend und demütig, wie er sich beschreibt. Hinzu kam eine genetische Disposition, die ihn vielleicht auch zu dieser Rolle verdammte. Wegelius hatte einen selten hohen Hämatokritwert, über 50. Sein Blut war also von Haus aus dicker als das anderer Fahrer. Was normalerweise einem Sportler zum Vorteil gereicht, wurde in der Hochphase des Dopings zum Nachteil für Wegelius, denn seine Kollegen konnten sich an die festgesetzte Grenze von 50 clever herandopen, während Wegelius immer bangen musste, mit zu dickem Blut aufzufallen und eine sogenannte Schutzsperre aufgebrummt zu bekommen.

Erst als er eine Ausnahmegenehmigung in den Händen hielt, wich diese Angst. Seine dopenden Kollegen haut Wegelius in diesem Buch dennoch nicht in die Pfanne. Er will nicht zum Ankläger werden. Das Fehlen von solch spektakulären Geschichten, schreibt Wegelius im Vorwort, sei vielleicht seine „Art, ihnen etwas von dem menschlichen Anstand zurückzuzahlen, mit dem sie mir begegnet sind“. Es geht ihm vielmehr darum, die Härten des Radsports schonungslos offenzulegen. Dieser Versuch machte ihn quasi zum Pathologen: Die Niederschrift sei so gewesen, „als würde man ein Tier, das man überfahren hat, eigenhändig sezieren müssen“.

Das ist keine schöne Sache. Und am Ende kommt Wegelius auch zu keiner schönen Diagnose. Hass auf den Radsport steigt in ihm auf, Hass auf die Scheinwelt und die (selbst)ausbeuterischen Strukturen: „Diese perfekt austrainierten Athleten waren in der Regel einfach nur im Eimer. Sie waren verlorene Söhne auf der Suche nach ihren Vätern oder nach der Anerkennung anderer oder ein wenig Selbstachtung“, schreibt er. Charly Wegelius offenbart sich als Schmerzensmann. Deswegen erträgt er auch die Schmerzen der Selbsterkenntnis wie ein – Domestik. Das ist ein Lesevergnügen. MARKUS VÖLKER