ausgehen und rumstehen
: Ein Déjà-vu auf dem Weg zur Selbsterkenntnis

Freitag. Das Ungeheuer mit seinen hundert rattenartigen, von bösen Stecknadelaugen und geifernden Mäulen entstellten Köpfen, das die Alten „Laufpublikum“ nennen, findet sich in dem vom Fernsehturm beschatteten „Kinzo“ ein. Vorgeworfen bekommt es eine Allstar-Band, einen Wolpertinger, geflickt aus „Elektroniccat“, „Kathryona“ und Chris Imler, dessen übertrieben herrliches Schlagzeugspiel mir, sofern ich es nicht selbst im Rücken habe, neben höchster Verzückung auch immer eine winzige unritterliche Pein bereitet.

Rock 'n' Roll passt gut zu der Härte des Ungeheuers, gewinnt seine Würde angesichts des johlenden Desinteresses träger Vergnügungssucht. Er passt nicht recht zu den Kunstfilmsnippets auf den vielen Bildschirmen. Obwohl, in seiner Berliner Nuller-Version mit Umhänge-Keyboard und so – ach, passt ja eh neuerdings alles zu allem. Der Abend wird später, die Gäste hässlicher, einige von ihnen zeigen die neuesten Schritte aus ihrem Tanzunterricht. Um vier fahren die Kreuzberger noch ins 39, wir Prenzlauer müssen ins Bett.

Samstag. Von dem Vierer in der Bahn waren nur drei besetzt. Ich nahm Platz zwischen jungen, schönen Mädchen, an denen zunächst nur auffiel, dass sich jede eine pompöse Brosche in die ansonsten dezent geschmackvolle Studentenkleidung gesetzt hatte. Plötzlich begann aber das Mädchen neben mir, mit sehr langen Pausen und unter still nickender Zustimmung der anderen, die folgenden Worte zu sprechen:

Ich bin Spanier.

Ich bin real.

Ich bin tot.

Ich kenne mich.

Der erste Satz schien mir aufgrund der schwarzen Haare des Mädchens plausibel, obwohl die Zusammenhangslosigkeit und die Wahl des Geschlechts mich schon etwas verstörten. Den zweiten Satz deutete ich mir so, dass sie wohl, ihrer angeblichen Nationalität gemäß, Anhängerin des Fußballvereins Real Madrid sei. So lebte ich ein paar Sekunden lang leidlich gefestigt vor mich hin, bis der dritte Satz wie ein Windstoß alle Cocktailsonnenschirmchen, mit denen mein Verstand sich gegen die gleißenden Strahlen der Verklärung hatte schützen wollen, wegblies.

Ich musste auch in diese Clique rein. Die Mädchen sollten mir alles erklären, mein bisheriges Leben zählte nicht mehr. „Ich kenne mich“, dieser krönende, schillernde Schlussakkord traf mich mit der dumpfen Vertrautheit eines Déjà-vu. Wenn das psychedelische Trio in diesem Moment hätte aussteigen müssen, wäre ich vielleicht endlich mal ein anderer Mensch geworden. („Nicht besser – anders“, würde Fil sagen). Doch stattdessen drehte sich das vermeintliche Medium zu mir um und ich sah auf ihrer Stirn die öde Lösung aller Rätsel pappen: ein Zigarettenpapier, auf dem mit Kuli „Pablo Picasso“ stand. Ich war in ein Ratespiel geraten! Nun gab es Tipps von den anderen: berühmter Maler, Blaue Frau, Vor- und Zunahme mit P. „Peter Pan“?, fragte die in so kurzer Zeit gründlich Entzauberte und entließ mich am Bahnhof Zoo in die Realität, die nun noch grauer und stabiler schien denn je.

„Wir waren niemals hier“ heißt der Film über die Gruppe Mutter, den wir in einem Kinosaal schauten, der sich zu einem gewöhnlichen verhielt wie ein Feuerwagen im Kinderkarussell zu einem echten. Als würden wir Ins-Kino-Gehen spielen, so kam es uns vor. Das war lustig und lustig auch die Erzählung des Schlagzeugers: „Da rief mich dieser Regisseur Jörg Buttgereit an und fragte mich, ob ich in einem seiner Filme eine Rolle spielen wollte, für die ich zwanzig Kilo zunehmen müsse. Weiter hat er über den Film eigentlich nichts erzählt, denn ich hatte da schon zugesagt.“ Ich mochte an dem Film das Vertraute und das Fremde. Der Abend ging im Gnadenbrot zu Ende. JENS FRIEBE