Streetfood Im Frittentempel Maison Antoine in Brüssel sind alle Kunden gleich. Selbst der König kann nicht widerstehen
: Jedem seine Pommes

Belgische Frites, das Original: zweimal in Rinderfett frittiert Foto: Michel Gouverneur/Reporters/laif

AUS BRÜSSEL Eric Bonse

Quelle Sauce – welche Soße? Das ist die ebenso unvermeidliche wie knifflige Frage, die den hungrigen Gast nach langem Warten vor dem Maison Antoine mitten im Brüsseler Europaviertel erwartet. Ma­yonnaise? Tartare? Oder doch lieber Andalouse?

Jetzt ist guter Rat teuer, denn bei 28 Soßen verliert man schon mal den Überblick. Und schnell muss es gehen, denn die Warteschlange wird nicht kürzer. Hinten drängelt schon ein Europaabgeordneter mit entnervtem Blick. Tartare wäre keine schlechte Wahl, empfiehlt mir Pascal Willaert, der Patron von Brüssels bekanntester und –laut New York Times – bester Frittenbude. „Frisch zubereitet aus Mayonnaise, Petersilie, Knoblauch und Zwiebeln.“ Das essen seine Stammkunden, es ist die Sauce Maison. Mayonnaise ist aber auch keine schlechte Wahl, sie ist die liebste Beigabe der ­Belgier. Wer hingegen Ketchup oder Curry wählt, outet sich als Tourist oder Deutscher.

Aber nein, Willaert und seine dreizehn Mitarbeiter haben nichts gegen Deutsche. Im Gegenteil, die Germanofonen gehören sogar zu seinen besten Kunden. Aber ein bisschen Mitleid hat er schon mit den Pommes-rot-weiß-Essern. Denn sie verstehen einfach nichts von der hohen Kunst des Frittierens. „Gute Frites kann man nur in Belgien machen, das kann man nicht exportieren“, ist sich der 42-jährige Brüsseler sicher.

Belgien: das Land der Pralinen, der Biere und der Fritten. Der Legende nach wurden die frittierten Kartoffeln Mitte des 17. Jahrhunderts in der Gegend um Namur erfunden – von Fischern, die in den kalten Wintern keine Fische aus der vereisten Maas angeln konnten. Also warfen sie statt ihrer Lieblingsspeise notgedrungen simple Kartoffelscheiben ins siedende Öl, die sie zuvor wie Fische zurechtgeschnitten hatten. Die Verlegenheitslösung erwies sich als so nahrhaft (und preiswert), dass sie sich schnell im ganzen Land verbreitete.

Im Laufe der Jahre wurde die Rezeptur verfeinert: Statt des Öls verwenden die Belgier heute kochendes Rinderfett; das gibt den Fritten den besonderen, leicht nussigen Geschmack. Zudem werden die Kartoffeln zweimal frittiert, damit sie innen gar und außen schön knusprig werden. Eine DIN-Norm gibt es aber nicht. Schließlich sind wir nicht in Deutschland, sondern in Belgien – und in Brüssel, der leicht schrägen Hauptstadt des Surrealismus. „Chacun sa frite – jedem seine Pommes“, fasst Wil­laert die belgische Philosophie zusammen. Jeder könne und solle die Erdfrüchte nach seiner Fasson zubereiten.

Zweimal frittiert

Rezept von Roel Lintermans, belgischer Sternekoch: 2 Eigelb, Schuss Essig und Wasser, 1 TL französischen Senf, 3 dl Traubenkernöl zu Masse schlagen, voilà: eine Mayonnaise. 2 Schalotten, 1 TL Kapern, Essiggurke, 40 g Petersilie und Schnittlauch, 4 hartgekochte Eier, alles klein hacken. Salz und Pfeffer.

Tipp: Schuss Worchestersauce dazu. Heerlijk!

In seinem Haus werden die Pommes erst sieben, dann noch einmal eineinhalb Minuten frittiert. Andere Fritkots (Flämisch) oder Fritures (Wallonisch) lassen den Kartoffeln mehr Zeit, bis zu 12 Minuten. Es muss nicht schnell gehen, wie bei McDonald’s. Die Hauptsache ist, dass die Fritten „singen“, wie der Belgier sagt. Und das tun sie, ziemlich oft sogar: Seit 2011 ist Belgien der größte Kartoffelproduzent der Welt, das Land der größten Pommes-Esser wohl auch. 96 Prozent der Belgier gehen laut einer Umfrage mindestens einmal im Jahr zur Frittenbude, 46 Prozent sogar einmal pro Woche. Die Fritten werden dabei nicht als simpler Snack für zwischendurch betrachtet, auch nicht als billige Beilage für arme Leute. Nein, sie gelten als vollwertiges Hauptgericht, das mit Fleischspießen, Kroketten und anderen leckeren „Nebensachen“ abgerundet wird. In dem Maison Antoine geht das Poulycroc am besten, eine Bratrolle mit Hühnerfleisch. Auch die aus den Niederlanden bekannte Frikandel wird gerne genommen.

Am liebsten genießen die Gäste ihr kalorienhaltiges Menü in einer der drei Tavernen, die gleich neben dem Imbiss mit Schildern wie „Frites willkommen“ um Kunden werben. Hier trifft man sie dann, die Europaabgeordneten, die Assistenten und die Taxifahrer, die auf eine Leffe – ein ebenso süffiges wie schweres Bier – ihr Cornet frites samt Beilagen genießen. Man isst mit der Hand aus der Tüte, und man nimmt kein Blatt vor den Mund. Vor den belgischen Pommes ist eben jeder gleich.

Es gibt aber auch spezielle Kunden. So ließ sich der ehemalige König Albert II. zu seinem 70. Geburtstag die Delikatessen des Brüsseler Frittentempels auf sein Schloss nach Laeken liefern. Auch im Palais des Beaux-Arts, dem sehenswerten Kunstpalast der Hauptstadt, kostete Albert öffentlichkeitswirksam von der belgischen Spezialität.

Ausgesprochen scheu ist dagegen Johnny Hallyday. Der französische Rockmusiker, der aus Steuergründen in Brüssel lebt, lässt sich seine „Portion“ meist diskret ans andere Ende des Platzes bringen, in dessen Mitte das Maison Antoine lockt. Der Altstar will kein Aufsehen erregen – und parkt seinen Ferrari dezent um die Ecke.

Willaert ist das nur recht. Ihm ist der Wirbel um seine Pommesbude auch nach zwanzig Jahren immer noch ein wenig unheimlich. „Ich habe es nie darauf angelegt, die Nummer eins zu sein“, sagt er bescheiden. „Ich möchte auch nicht, dass Pommes frites so ein schickes Luxusding werden. Ich will ein gutes und günstiges Produkt liefern, das ist ­alles.“ Bei 2,60 Euro für eine Tüte Pommes und 7,50 Euro für ein Combiné mit Fleischbeilage wird ihm niemand widersprechen.

„Gute Frites kann man nur in Belgien machen“

Pascal Willaert, Patron des Maison Antoine in Brüssel

Allerdings muss auch Wil­laert mit der Zeit gehen. Neuerdings sind mobile Imbisse in Brüssel in Mode gekommen, genau wie in New York oder ­Paris. Gerade im Europaviertel machen rollende Foodtrucks dem alteingesessenen Kartoffelbrater zunehmend Konkurrenz. Sie heißen El Camion, Keep on tasting oder La Frite und wildern mit trendigen Speisen in Wil­laerts Revier. Und so gibt es auch das Maison Antoine seit einem Jahr auf Rädern. Für Partys, Hochzeiten und mondäne Empfänge kann man sich nun die besten Pommes frites direkt ins eigene Haus holen. Das ist „très chic“ und nicht mehr ganz so bodenständig wie früher, in der guten alten Zeit.

Als das Maison Antoine 1948 von Antoine Desmet gegründet wurde, war es selbst noch eine provisorische Bude. Drei Generationen später ist es zu einer Institution geworden, auf die das Brüsseler Fremdenverkehrsamt voll Stolz hinweist. In den 70er Jahren hatte die Stadt „ihrer“ Vorzeigefriterie eine Konzession für 99 Jahre erteilt. Bis 2070 ist die Existenz also gesichert. Dennoch macht sich Pascal Wil­laert Gedanken über die Zukunft: „Die Tradition stirbt aus“, sorgt er sich. Im Jahr 2007 gab es noch 7.000 Friteries in Belgien, 2015 waren es nur noch 4.500. Um den bedrohlichen Trend zu stoppen, will Belgien die Pommes zum Nationalerbe, am liebsten gleich zum Weltkulturerbe erheben.

Damit die belgische Esskultur überlebt, braucht es jedoch nicht nur ein Label, sondern auch und vor allem Köche, die den Kessel heiß halten. In dem Maison Antoine ist nicht einmal das gesichert. Zwar steht der Familienbetrieb noch auf zwei Beinen – neben Pascal kümmert sich auch sein Bruder Thierry um das Geschäft. Doch ob dessen Kinder die Tradition weiterführen, ist noch ungewiss: „Das muss sich noch zeigen“, sagt der Vater. „Wenn es nichts wird, wäre ich schon sehr enttäuscht.“