Gab es vor dem Mord einen Abschied?

Im so genannten Ehrenmord-Prozess erzählt die Mutter der Hauptzeugin neue Details: Ihre Tochter Melek habe unter großem Druck gestanden zu schweigen. Sie selbst sei einen Tag nach dem Mord an Hatun Sürücü in der Wohnung der Familie gewesen

VON PLUTONIA PLARRE

Abgeschirmt von drei Bodyguards betritt Ayla A. den Gerichtssaal. Schnellen Schrittes, das Gesicht von den Rängen abgewandt, begibt sich die zierliche Frau in den Zeugenstand. In dem so genannten Ehrenmordprozess gegen die drei Sürücü-Brüder spielt Ayla A. eine wichtige Rolle. Sie ist die Mutter der 18-jährigen Hauptbelastungszeugin Melek.

Denn erst auf das Drängen der Mutter hatte Melek bei der Polizei ausgesagt. Der Tenor der Aussage hatte die drei Brüder schwer belastet: Sie hätten den Mord an ihrer Schwester, der 23-jährigen Deutschkurdin Hatun Sürücü, am 7. Februar gemeinsam geplant. Die Zeugin Melek und ihre Mutter Ayla A. leben seither an einem geheimen Ort unter Polizeischutz.

Melek war mit dem 18-jährigen Ayhan Sürücü zum Tatzeitpunkt liiert. Nachdem er seine Schwestern Hatun auf offener Straße mit drei Kopfschüssen regelrecht hingerichtet hatte, versuchte Melek zunächst, Ayhan bei der Polizei ein Alibi zu geben – wie, beschrieb gestern die Mutter vor Gericht. „Ich hatte das Gefühl, dass meine Tochter gelogen hat“, sagt Ayla. Sie hatte ihre Tochter damals bei der Polizei abgeholt. Instinktiv habe sie gespürt, dass Melek unter großem Druck stand. „Du hast eine Familie, du brauchst keine Angst zu haben“, habe sie um Meleks Vertrauen geworben.

„Mama, ich möchte dich nicht belasten“, habe Melek völlig aufgelöst versucht, die Mutter abzuwehren. Doch die insistierte weiter, bis es aus der Tochter herausbrach: „Sie haben es getan. Ayhan und seine Brüder“. – „Mama, glaubst du, ich werde damit weiter leben können?“, habe Melek sie voller Angst gefragt, erzählt die Mutter. „Sie werden bei mir nicht zögern. Sie haben ihre eigene Schwester getötet.“

Mit dem Appell, an Hatuns fünfjährigen Sohn zu denken, brachte Ayla A. die Tochter dazu, der Polizei alles zu erzählen, was sie über die Tat und deren Planung wusste. „Wenn wir schweigen“, zitiert sich Ayla A. selbst, „wird er in der Familie aufwachsen, die seine Mutter getötet hat. Willst du das?“

Tochter Melek war schon vor Gericht mehrmals vernommen worden, sie gab zu Protokoll: „Ayhan hat geschossen.“ Alpaslan – der zweite Bruder – habe gewartet, Mutlu schließlich habe die Waffe besorgt. Ob sie von ihrer Tochter etwas über die Rolle des Vaters in diesem mutmaßlichen Komplott wisse, fragte der Richter gestern die Mutter Ayla A. „Ayhan hat ihn angerufen und ihm Bescheid gesagt“, lautete die Antwort. Ayhan legte als einziger der Brüder ein Geständnis ab (die taz berichtete). Er will die Tat ganz allein verübt haben.

Dass Melek mit Ayhan liiert war, habe sie erst nach Hatuns Tod erfahren, sagt die Mutter. Melek sei früher „ein lebenslustiges, witziges, selbstbewusstes Kind“ gewesen. In letzter Zeit habe sie sich aber gewandelt und sei zusehends stiller geworden.

Als Grund dafür vermutete die Mutter den Einfluss von Arzu Sürücü. Arzu, ein Jahr jünger als ihre Schwester Hatun, sei vor einem Jahr in Meleks Klasse gekommen. Die beiden Mädchen hätten sich angefreundet. Im Gegensatz zu Hatun, die ein emanzipiertes Leben als alleinerziehende Mutter führte, trägt Arzu ein Kopftuch und ist sehr religiös. Irgendwann habe auch Melek angefangen ein Kopftuch zu tragen, sagt Ayla A. Sie gehofft, „dass das eine Phase ist, die vorübergeht“.

Die Rolle, die die 22-jährige Arzu in dem Verfahren um den Tod ihrer Schwester spielt, erscheint seit dem gestrigen Prozesstag in neuem Licht. Die junge Frau mit bleichem Gesicht und dunklen Augen, die im Gerichtssaal stets ein Kopftuch trägt, verfolgt den Prozess als Nebenklägerin. Als Familienangehörige der Angeklagten hat sie von ihrem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch gemacht.

Bei einer Pressekonferenz, die die Familie gab, hat sich Arzu ebenso wie der Rest der Familie als Opfer dargestellt. Alle, bis auf Ayhan, seien unschuldig. Das gelte auch für Alpaslan und Mutlu. An die Adresse ihrer früheren Freundin Melel gewandt, sagte Arzu damals: „Melek ist mitschuldig am Tod meiner Schwester.“ Sie gehöre ebenso wie Ayhan hinter Gitter.

Meleks Mutter sagt, dass sie nach Hatuns Tod zum ersten Mal in der Wohnung der Sürücüs war. Dort habe sie von Hatuns weinender Mutter erfahren, dass Hatun einen Tag vor ihrem Tod zu Hause war. Sie habe ihre Mutter um Verzeihung gebeten. „Sie kam mit Arzu und sie ging mit Arzu“, sagt Ayla A. Prozessbeobachter interpretierten das gestern so, dass Arzu ihre Schwester vor dem Mord noch einmal zur Mutter begleitete. Ein eingefädelter Abschied also?