Nur noch halbe Haxen im Brauhaus

Verschwendung Nicht nur die Verbraucher werfen Lebensmittel weg. Mehr als die Hälfte geht auf das Konto von Erzeugern, Verarbeitung und Handel

Kosten von 21,6 Milliarden Euro entstehen nach Berechnungen der Uni Stuttgart jährlich durch vermeidbare Lebensmittelabfälle in Deutschland.

Durch die Spende an Tafeln und Tierheime kann der Handel Entsorgungskosten für Lebensmittel deutlich reduzieren – und dabei nach Angaben der Celler Tafel über Spendenquittungen zwischen 40 und 100 Prozent des Preises steuerlich geltend machen.

Der Anteil des Lebensmittelkonsums an den Treibhausgasemissionen in Deutschland beträgt 23 Prozent. Durch den Verzehr entstehen jährlich pro Kopf 2,2 Tonnen Kohlendioxid, durch den Verlust von Lebensmitteln zusätzliche 0,5 Tonnen CO².

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Lebensmittelverschwendung ist ein Thema, über das viel berichtet wird, da Millionen von Tonnen jedes Jahr von Verbrauchern weggeschmissen werden, weil die Ware verdorben oder das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Gleichzeitig sprechen Erzeuger, Industrie und Handel nur ungern über ihre eigene Rolle, denn die meisten Lebensmittel werden nicht von den Kunden, sondern bereits vorher vernichtet.

Keine Chance für krummes Gemüse

Auf einer Tagung der Sektion Niedersachsen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und des niedersächsischen Landwirtschaftsministeriums kürzlich in Hannover stellte der Wissenschaftler Jacob Fels von der Uni Witten-Herdecke die aktuellen Zahlen für Deutschland vor: 14 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich vernichtet, davon 36 Prozent durch die Landwirtschaft, 14 Prozent durch die verarbeitende Industrie, sieben Prozent durch den Handel und 43 Prozent durch die Haushalte. „Landwirte lassen bei Früchten und Gemüse ein Viertel einfach liegen, weil ihr Aussehen nicht der Norm entspricht und keine Chance für den Verkauf besteht“, sagt Fels.

Edeka hatte vor zwei Jahren in einigen Märkten in Hamburg und Schleswig-Holstein genau solche Ware zu einem reduzierten Preis seinen Kunden angeboten – der Versuch wurde nach kurzer Zeit gestoppt.

Real hat in seinen 300 Supermärkten in Deutschland auf so einen Testlauf ganz verzichtet. Die Kette versucht anderweitig, ihre Verluste zu reduzieren: Die Einkaufsrhythmen der Märkte wurden verkürzt, die Bestellmengen verkleinert, die Zusammenarbeit mit den Tafeln ausgebaut, die Kontrollen des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) intensiviert.

„So konnten wir die abgelaufene Ware deutlich reduzieren“, sagt Eva-Maria Dörr, Leiterin des Real-Qualitätsmanagements. Real verzichtet darauf, mit seinen Bemühungen für weniger vernichtete Lebensmittel für sich zu werben. „Wenn das MHD abgelaufen ist, können wir die Ware aus rechtlichen Gründen nicht mehr an die Tafeln weitergeben“, sagt Dörr. „Auch bei uns wird immer noch was weggeworfen. Das ist ein sensibles Thema, deswegen sind wir etwas vorsichtig damit.“

Der Handel trage nach wie vor dazu bei, dass Lebensmittel im großen Stil von den Kunden nicht genutzt und weggeworfen werden – davon ist Klaus Müller überzeugt, einst Umweltminister in Schleswig-Holstein und heute Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband: „Aktionen wie ‚Kauf zwei zum Preis von einem‘ oder die normale Preispolitik – eine große Packung ist meist deutlich günstiger als zwei kleine – führen dazu, dass gerade in kleinen Haushalten viel weggeschmissen wird.“

Er ist überzeugt, dass Appelle an Hersteller und Verbraucher scheitern werden. „Die Politik muss handeln“, findet Müller. Eine Reform des MHD sei nötig. Und in der Schule müsse Verbraucherkompetenz als verpflichtendes Thema im Unterricht behandelt werden.

Bis 2025 soll innerhalb der EU die Zahl der vernichteten Lebensmittel halbiert werden – nach Ansicht von Tanja Dräger de Teran vom World Wide Fund for Nature (WWF) ein unrealistisches Ziel: „Es gibt derzeit keine verlässlichen Zahlen und genauen Definitionen zu diesem Thema“, sagt sie. Lebensmittel, die für den Verkauf vorgesehen waren und am Ende in Biogasanlagen landeten, würden gar nicht erfasst. Das sei nicht hinnehmbar.

Nach ihrer Einschätzung kann vor allem in der Großverpflegung etwas gegen die Verschwendung getan werden. So biete das Brauhaus München nur noch halbe und nicht mehr ganze Haxen an. „Durch kleinere Portionen geht viel weniger zurück“, sagt Dräger de Teran. Täglich könnten so zwei Schweine gespart werden. Und in den Ikea-Restaurants gebe es statt einer Standardportion jetzt drei Gerichtsgrößen.

Die DGE hat Standards für Unternehmen zum Thema Lebensmittelverschwendung erarbeitet. „Bahlsen schmeißt seitdem viel weniger weg“, sagt DGE-Ernährungsberaterin Helga Strube. „Eine freiwillige Verpflichtung wie bisher reicht nicht aus, diese Standards müssen Pflicht werden“, fordert Dagmar Freifrau von Cramm, Präsidentin der Stiftung „Besser essen, besser leben“.

Erleuchtung in der Schnippeldisko

Lotte Heerschop von der Organisation Slow Food leitet Schulprojekte, bei denen Mädchen und Jungen krumme Möhren ernten. „Wenn sie erfahren, dass Gemüse vernichtet wird, weil es zu klein, zu groß oder zu unförmig ist, dann verstehen sie, worum es geht“, sagt Heerschop.

Slow Food versucht mit weiteren Aktionen, Bewusstsein für das Thema zu schaffen – etwa mit einer Schnippeldisko: Dabei wird von Landwirten geerntetes, nicht marktkonformes Gemüse von Hunderten von Freiwilligen zu Suppen und Salaten verarbeitet und bei öffentlichen Veranstaltungen kostenfrei angeboten. Joachim Göres