heute in Bremen
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„Freie Individualität“

VORTRAG Ein Historiker stellt zur Diskussion, was bei Marx unter „Emanzipation“ zu verstehen ist

Jan Hoff

Foto: Privat

35,Historiker und Politikwissenschaftler, lehrte zuletzt an der Uni in Kassel und Innsbruck und ist Autor des Buches: „Marx Global“ über die Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses.

taz: Herr Hoff, wieso müssen Sie für solchen Ärger sorgen?

Jan Hoff:Tue ich das? Ich verstehe die Frage nicht.

Immerhin sagen Sie, Karl Marx sei eigentlich gar nicht für eine „gerechtere“ Verteilung von Reichtum eingetreten!

Ich sage nur, dass in der Rezeptionsgeschichte der marx‘schen Theorie durch den Einfluss von Lenin für das, was als sozialistische Gesellschaft galt, die Veränderung der Distributionsverhältnisse als Kriterium zu stark aufgewertet wurde.

Also vor allem die Frage der Verteilung von Reichtum?

Ja. Marx hat im Kapital eine weitere Definition vom Sozialismus: nämlich vor allem die Entfaltung der freien Individualität.

War Marx also eigentlich Anarchist?

Der französische Marxforscher Maximilien Rubel bezeichnet Marx in einem Aufsatz tatsächlich provokant als „Vordenker des Anarchismus“. Und auch historisch gibt es ja Überschneidungen. Bei Marx ist der Begriff des Sozialismus eng mit dem Begriff der „disposable Time“ verknüpft, also der „verfügbaren Zeit“. Er bezieht sich dabei auf einen anonymen englischen Autoren aus den 1820er-Jahren. Es geht um die Zeit, die einem außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses zur Verfügung steht. Unter Bedingungen des Kapitalismus ist sie gefährdet, wird die Zeit der Menschenimmer wieder den Bedürfnissen des Kapitals untergeordnet. Marx machte also die frei verfügbare Zeit zu einem Kriterium der Emanzipation – in der Raum für menschliche Entwicklung ist.

Wie verträgt sich diese Interpretation mit dem, was unter Berufung auf Marx als Realsozialismus umgesetzt wurde?

Es verträgt sich schlecht. Man muss auf die sehr lange Tradition an marxistisch fundierter Kritik am Realsozialismus verweisen, von den 1920er-Jahren bis heute. In der Sowjetunion wurden diese Leute als Konterrevolutionäre bezeichnet und waren Verfolgung ausgesetzt.

Und heute?

Ein Großteil der emanzipatorischen Strömungen – John Holloway, Antonio Negri – lassen sich nicht mehr auf den Begriff des Marxismus reduzieren. Wir lesen Marx heute anders.

Interview: jpb

19 Uhr, Galerie K’, Alexanderstraße 9b