„Es entstehen gute Synergien“

Jugendsozialarbeit Der Verein Karuna betreut minderjährige Obdachlose und minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Geschäftsführer Jörg Richert im Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede – und die Konkurrenz um knappe Fördergelder

Beim Kongress der Straßenkinder, den Karuna im September 2015 organisiert hat Foto: Joanna Kosowska

von Alke Wierth

taz: Herr Richert, Karuna betreut minderjährige Obdachlose und minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Gibt es da nicht eine Konkurrenz, etwa um stets knappe Fördergelder?

Jörg Richert: (lacht) Vor ein paar Monaten bekamen wir einen Anruf aus dem Drogenreferat, dass uns 2016 25.000 Euro für die Arbeit mit drogenabhängigen obdachlosen Jugendlichen gestrichen werden. Die Begründung: die steigenden Kosten für die Flüchtlingsarbeit. Nun kam ein Anruf von der gleichen Senatsverwaltung, dass wir für die Arbeit mit Flüchtlingskindern in derselben Einrichtung Mehrbedarf anmelden sollen. Wenn das so läuft, macht uns das zwar ein bisschen Arbeit, ist aber eigentlich egal. Und vielleicht gibt es durch die Flüchtlinge am Ende insgesamt sogar etwas mehr Geld, wer weiß das schon?

Sie bauen die Unterkunft von Karuna demnächst um, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Finanziert das das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), das für die Flüchtlingsunterbringung zuständig ist?

(Lacht) Nein. Dafür bekommen wir Geld von einer Stiftung. Wir hoffen auch auf Geld von privaten Förderern. Die Hälfte der Kosten ist noch nicht gedeckt. Aber wir kommen schon klar. Die Konkurrenzsituation zwischen Flüchtlingen und Obdachlosen ist erheblich stärker im Bereich der Erwachsenen. Da reichen die Notübernachtungsplätze im Winter ja schon für die einheimischen Wohnungslosen nicht. Deshalb kommt es angesichts der großen und ja auch erfreulichen Solidaritätswelle mit Flüchtlingen schon dazu, dass sich manche, die mit Obdachlosen arbeiten, fragen, wo denn die Solidarität für diese bleibt.

Warum betreuen Sie hier beide Gruppen?

Eigentlich haben unsere Jugendlichen selber mich auf die Idee gebracht. Viele Straßenkinder verorten sich ja in einem linken politischen Lager. Aber irgendwann begannen auch die sich zu fragen, ob die Versorgung der Flüchtlinge zu ihren Lasten gehen würde. Und sie haben gesehen, dass viele Flüchtlingskinder vorankommen, etwa in Sachen Schule, während sie auf der Straße hängen bleiben.

Warum ist das so?

Fragt man die obdachlosen Jugendlichen selber, suchen sie oft die Schuld bei sich selbst. Sie kriegen halt nichts auf die Reihe, verpassen Termine …

Der Verein Karuna betreut seit 25 Jahren mit mittlerweile gut 160 MitarbeiterInnen Straßenkinder und drogenabhängige Jugendliche in Berlin, etwa in der Tageseinrichtung Drugstop und dem Jugendwohnprojekt Villa Störtebeker in Lichtenberg. In der Karuna-Therapieeinrichtung in Wedding leben eigentlich Jugendliche mit Drogen- oder anderen psychischen Problemen. Seit mehreren Monaten wohnen dort außerdem zehn männliche minderjährige unbegleitete Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Albanien. Zehn weitere sollen nach einem entsprechenden Ausbau des Hauses aufgenommen werden. (akw)

Und die Flüchtlingskinder und -jugendlichen, die sind zielstrebiger?

Sie können auf ihre Eltern zurückgreifen.

Die sind doch gar nicht hier!

Nein. Aber sie waren da. Die Straßenkinder hier haben die Erfahrung gemacht, dass sie von ihren Eltern geschlagen, missbraucht, missachtet wurden. Aus der Tiefenpsychologie weiß man, dass das eine so starke seelische Verletzung ist, dass man darauf eigentlich nur mit Widerstand reagieren kann. Kinder, die so aufwachsen, lernen nicht, sich selbst zu äußern, haben Schwierigkeiten damit, Bindungen aufzubauen. Stattdessen verletzen sie sich selbst oder nehmen Drogen. Bei unserer Arbeit mit Straßenkindern und jugendlichen Flüchtlingen erleben wir, dass die Flüchtlinge oft wesentlich stabiler sind.

Sie haben doch oft auch Schlimmes erlebt.

Das stimmt. Aber ich rede von Erfahrungen der frühesten Kindheit, beginnend vor dem Spracherwerb. Flüchtlingskinder haben oft eine gute Bindung zu ihren Eltern, eine in diesem Sinne behütete Kindheit gehabt. Sie fliehen ja nicht vor ihren Familien, sondern vor Krieg oder Not. Sie haben, selbst wenn ihre Eltern tot sind, eine innere Stärke, einen Rückhalt, der aus diesen existenziellen Erfahrungen der elterlichen Liebe stammt. Natürlich sind auch unter den Flüchtlingen Kinder, die nicht behütet aufgewachsen sind, vielleicht geschlagen wurden. Ich rede von einem Muster, das für uns erkennbar wird.

Jörg Richert

Foto: Karuna

53, geboren in Ostberlin, ­Sozialarbeiter schon vor der Wende, hat Karuna mitgegründet und ist einer von zwei GeschäftsführerInnen des Vereins.

Wieso haben Sie bei Karuna eigentlich überhaupt jugendliche Flüchtlinge aufgenommen? Es gab doch sicher keinen Leerstand in Ihrer Einrichtung?

Die Kinder brauchen ja ein Zuhause. Wir haben sie aus humanitären Gründen aufgenommen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürfen eigentlich nicht in Hostels untergebracht werden, sondern brauchen besondere Betreuung, Aufnahmeeinrichtungen mit einer speziellen Qualifikation.

Wie kommen die beiden Gruppen hier bei Ihnen miteinander klar?

Es gibt Unterschiede, aber auch Anknüpfungspunkte. Und es formuiert sich unter den Jugendlichen beider Gruppen auch ein Bewusstsein dafür, es entstehen gute Synergien. Die Straßenkinder sehen es als Chance für sich, den Flüchtlingen zu helfen. Sie kennen sich hier aus und können nützlich sein. Und die Flüchtlinge können mit ihrer inneren Stabilität wiederum die Straßenkinder stärken. Beide Gruppen können voneinander profitieren. Wir haben ja gerade erst angefangen, aber wir sehen da schon erste zarte Pflänzchen, beim Essen, beim gemeinsamen Sport oder auch im Umgang miteinander. Das verhindert auch Konkurrenzdenken.