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Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 8: Bienchen bellt auf einem fremden Stern

An diesem Sonntag verwandelte sich die kleine Straße nördlich des Berliner Fernsehturms in einen Ort der Stille und des Eingedenkens. Flaneure suchten, fanden und bestaunten Spuren, die die Zeit an Häusern und Menschen hinterlassen hatte. Familien trotteten einträchtig in Reihen und nebeneinander her. Blieben stehen, lasen einander die Namen auf den Stolpersteinen vor, die sie unterm Herbstlaub fanden. Fernes Glockenläuten mischte sich mit dem Rascheln der Blätter. Die Menschen wirkten nachdenklich und ausgeruht, als hätte jemand an der Uhr gedreht.

Oma Heinrich rauchte ihre Morgenzigarette und dachte an nichts Böses, als das Telefon läutete. Sie zögerte. Nahm nach dem fünften Klingeln ab.

„Charlotte?“

Lautlos glitt der Hörer aus ihrer Hand, plumpste auf Bienchens Schädel herab und riss den gesamten Apparat mit sich, der klirrend auf dem Parkettboden zerschellte. „Jahuuuuuuuuuuuuuuu!“

Die getroffene Pudeldame humpelte ins Nebenzimmer und versteckte sich unter der Couch. Oma Heinrich blickte zu Boden. Bruchstücke ihres Telefons waren bis ins Badezimmer geflogen. Aus der intakten Muschel aber krächzte die Stimme erneut:

„Charlotte?“

Charlotte Heinrich, geborene Roth, ging langsam in die Knie, wobei sie sich an der Flurwand abstützte, von der Menschen mit Sommerhüten aus vergilbten Fotografien auf sie herab lächelten. Vorsichtig beugte sie ihren Kopf dem Lautsprecher entgegen.

„Hallo?“

Anne mochte den Sonntag, auch wenn sie arbeiten musste. Seit sich die Straße rund um den Supermarkt in eine Großbaustelle verwandelt hatte, war der Umsatz ihres Bioladen an den Wochentagen zurückgegangen. Laufkundschaft gab es weiterhin, doch wichen Touristinnen ebenso wie ihre rauchenden Stammgäste und andere passionierte Draußenhocker an ruhigere Orte aus. Von der Wirtin des blaulichtnebenan wusste sie, dass deren Geschäft weniger betroffen war. „Bei uns könnse ja drinnen rauchen.“ Den sonstigen Inhalt ihres Gesprächs würde sie mit ins Grab nehmen müssen. Das zumindest hatte sie Hildegard versprochen. Seltsame Zeiten waren das. Seltsame Bündnisse. Und es gab kein Zurück. Anne malte Kürbisse auf die Tafel neben der Eingangstür ihres Ladens. Der Lachmund, mit dem sie den größten von ihnen versah, verrutschte zu weit nach unten. Der Kürbis sah jetzt aus, ab hätte er ein Doppelkinn.

Hildegard betrachtete die Szene aus der sicheren Entfernung des Dachgeschosses gegenüber. Manchmal landete sie hier oben bei einem alten Freund, mit dem sich vortrefflich reden ließ. Er konnte zuhören, dichthalten und war nicht nur der beste Trinkkumpan, den sie sich vorstellen konnte. Mit den Zärtlichen hatte sie nie etwas anfangen können. Den Verständnisvollen. Am liebsten schlief er mit Männern. Wer weiß, vielleicht wären sie sonst ein Paar geworden … Papperlapapp. Bei ihm war ihr Geheimnis jedenfalls sicher.

Oma Heinrich kletterte ächzend aus dem U-Bahnhof am Spittelmarkt. Hinkend trabte auch das dicke Bienchen hinter ihr her.

„Es dauert ja nicht lange“, versuchte sie, ihre Gefährtin zu trösten.

Grüne und blauweiße Mannschaftswagen versperrten auf Höhe des Springerhochhauses den Weg. Überall standen Leute ratlos herum, Polizisten redeten aufeinander ein. Vor einem italienischen Lokal, das am Rande des Sperrgebiets lag, ließ sie sich erschöpft nieder.

Die Stimme am Telefon hatte Charlotte dazu gebracht, ihren gewohnten Kiez zu verlassen. Die, der sie gehörte, lag pflegebedürftig im Bett, irgendwo da drüben, im Westen, wo sie gerade versuchten, eine Bombe zu entschärfen. Die rote Lotte und die braune Elli, so hatten sie sich gegenseitig verspottet, als sie noch Kinder gewesen waren und der Krieg schon alt. Elisabeth war es schließlich gewesen, die ihr das Leben rettete. Damals. Als keiner mehr Späße machte.

Nane Diehl

Manja Präkels, Jg. 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band „Der Singende Tresen“. Soeben erschien beim Verbrecher-Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com

Bis zu diesem Anruf hatte sie geglaubt, Elli sei längst tot. Ein Polizist trat an den Tisch heran: „Die sprengen jetzt die Zünder. Könnte laut werden.“ Oma Heinrich war mulmig zumute. Ihr Bienchen begann zu bellen und hörte nicht mehr auf.

Im Herbst fallen nicht nur die Blätter. In den Sommermonaten hatte Hildegard in ihrer Frühschicht oft allein gesessen und Kreuzworträtsel gelöst, die Kunden ließen sich Zeit mit der Einkehr. Aber jetzt, wo die Heizsaison begann, hatte sich bereits eine kleine Schlange gebildet, als sie die Tür zum Gastraum aufschloss. Phlegmatisch trotteten Sprottenpeter, Lolle und Heiko hinter ihr her. So phlegmatisch sogar, dass sie vergaßen, ihr dabei zu helfen, die Stühle von den Tischen zu räumen. „Müssense eben länger auf ihr Bier warten“, dachte Hildegard ohne Groll. Ihre Gäste bedurften der Aufmunterung. Das war so. Alkohol allein war eben keine Lösung. Da hätten sie ja auch anderswo saufen gehen können. Sie konnte bereits spüren, wie viel Kraft sie dieser Abend kosten würde.

„Na, meine Herren, wie üblich?“

Drei Häupter nickten blicklos zum Tresen.

„Ach du meine Jüte!“

Oma Heinrich verstand die Welt nicht mehr. Nicht nur, dass ein Geist aus vergangener Zeit lebendig geworden war, sie ihre alte Schulfreundin wiedergetroffen hatte, deren erbarmungswürdiger Zustand ihr schwer zu schaffen machte. Nein, das Wort „Evakuierung“ musste auf das Bewusstsein der Sterbenskranken zudem wie eine Droge, ein Wetterleuchten gewirkt haben. Denn was Elisabeth schließlich von ihr verlangt hatte, erschien Charlotte unvorstellbar. Andererseits: Einst hatte sie geschworen, niemals nach drüben zu gehen, und nun … kam sie gerade von dort. Nachdem sich Bienchen auch noch im Fahrstuhl des Pflegeheims hatte übergeben müssen, war sie in das erstbeste Taxi gestiegen und losgedüst, nur nach Hause! Die Bombe war inzwischen längst entschärft, nicht aber der Sprengsatz, den Charlotte Heinrich mit ihrer alten Pudelin nach Hause trug.

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