Berliner Szene: Die Blase
Fremde fragen
Nach der Lesebühne in Neukölln. Es ist null Uhr, als ich mein Fahrrad abschließe. „Dann kann ich ja mit der Ringbahn fahren“, denke ich. Es sind fast 15 Kilometer bis Pankow, die machen keinen Spaß, wenn man zwei Bier im Bauch hat. Eigentlich könnte ich noch mal pinkeln gehen. Aber jetzt noch mal anschließen, ausziehen, hinsetzen, anziehen, Hände waschen, wieder abschließen? Mit Ringbahn und Rad brauche ich keine Stunde. Das halte ich durch.
Am Bahnhof leuchtet das Schild schon von Weitem. „Orr, nee!“, sage ich. „Vom 22.–25. 10. zwischen 22 und 4 Uhr kein Verkehr auf den Linien S41 und S42“, sagt das Schild. Ich schaue mich um. Keine sitzpinklerkompatible Ecke, nirgends. Also steige ich wieder auf. „Hauptsache, Bewegung!“, denke ich, „Bewegung ist jetzt das Allerwichtigste.“ Es ist kurz vor eins, als ich am Fuß der Schönhauser Allee ankomme und noch die letzte U-Bahn! bekomme. Es könnte alles so schön sein. Wenn, ja wenn nicht am Bahnhof Pankow der Fahrstuhl kaputt wäre.
Ich kann mein Fahrrad nicht tragen. Es ist zu schwer. Die Existenz meiner Blase ist mir jetzt schmerzlich bewusst. Finde ich jemanden, der mir das Rad hochträgt? Wie ich das hasse, mich bei irgendwelchen fremden Männern anbiedern zu müssen, weil die Bahn nicht hinkriegt, ihre Fahrstühle in Gang zu halten!
Ich frage den Lokführer. „Ick würde Ihnen ja helfen“, sagt der, „aber ick darf hier nicht vom Zug weg. Wir fragen den Kollegen.“ Der Kollege ist ein großer Mann, der am anderen Ende des Bahnsteigs mit Besen und Schaufel durch die Wagen läuft. „Der ist manchmal so’n bisschen stoffelig“, sagt der Lokführer, „aber eigentlich’n janz Netter.“ Der Kollege kommt näher und zeigt ein zahnloses Lächeln. „Können Sie mir mit dem Fahrrad helfen?“ – „Klar!“, sagt er, „Machen wa!“ Um halb zwei war ich zu Hause.
Lea Streisand
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen