Frankfurter Buchmesse

Salman Rushdie beschwört die Magie der Literatur. Und: Ein Porträt des aktuellen Buchpreisträgers Frank Witzel

Er bringt den Terror zur Buchmesse

Unscheinbar Unser Autor ist ein langjähriger Weggefährte und Altersgenosse des Buchpreisträgers Frank Witzel. Die fatalistische Barbarei der Nachnazizeit im Roman fühlt er beim Lesen körperlich mit

Frank Witzel – „Hoffentlich kauft er sich vom Preisgeld ein paar neue Hemden“, meint unser Autor Foto: Arne Dedert/dpa

„Wer ist eigentlich dieser Witzel?“ Fragte vor zehn Jahren die Jungle World in ihrer Besprechung von „Plattenspieler“, dem Buch von Thomas Meinecke, Frank Witzel und mir. „Kennst du eigentlich einen Frank Witzel?“, fragte mich Meinecke auf der Buchmesse 2003. „Nur seine Texte aus der Jungen Welt.“ Der wolle ein Buch mit uns machen, weil wir alle drei Jahrgang 55 sind. Wir sollen uns über unsere Pop-Sozialisation unterhalten, Witzel würde das mitschneiden und abtippen. Immerhin tippt er es ab.

Ein paar Wochen später treffe ich mich mit Frank in Offenbach. Er erzählt, dass er von seinem Schreibtisch in meine Wohnung schauen konnte, auf die Plattenregale. Inzwischen wohne ich wieder in Frankfurt. Frank ist geblieben. „Deutscher Buchpreis geht an einen Offenbacher.“ Titelt die Offenbach Post. Wo doch erst vor zwei Jahren das Jugendwort des Jahres von einem Offenbacher gekommen war. Babo. Der Rapper Haftbefehl ist halb so alt wie Witzel, sein Offenbach ist der Urban Jungle: Nutten, Bullen, Dealer, Junkies, Chabos, Babos. Frank Witzels Offenbach ist ein anderes. Bezahlbare Altbauwohnungen, Wochenmarkt, italienischer Gemüseladen, gegenüber ein Wasserhäuschen, wie man hier sagt.

Als der Roman auf die Shortlist kam, brachte die Frankfurter Rundschau eine Homestory. In den zwölf Jahren seit jener Buchmesse war ich kein einziges Mal bei Frank zu Hause, er oft bei mir. Und jetzt das. Claus-Jürgen Göpfert, Lokal-Redakteur der FR, habe sich das Buch gekauft und ihn kontaktiert, erzählt Frank. Im Feuilleton hatte das Rezensionsexemplar offenbar keinen interessiert. „Seit 25 Jahren wohnt Witzel in Offenbach, da, wo es am schönsten ist“, schreibt die FR unter ein Foto, auf dem der Autor zwischen Fahrrädern, Gießkanne und Topfpflanze im Hinterhof steht, schwarze Jeans, weinrotes Button-Down-Hemd mit kurzem Kragen, casual bis unscheinbar. Kein Lächeln.

Auch auf dem Gruppenfoto der Shortlist-Nominierten trägt Frank so ein Button-Down-Hemd aus hellblauem Jeans-Stoff. Hoffentlich kauft er sich von den 25.000 Euro ein paar neue Hemden. Außerdem lächelt er nicht nur nicht, er macht ein Gesicht, als würde er sich fragen, was er hier verloren hat, im Frankfurter Literaturhaus. Er trägt den deadpan look.Mit ausdruckslos und todernst ist deadpanunzureichend übersetzt, für das Verb to deadpanschlägt der Dictionaryvor: Witzeln, ohne zu lachen.

In meinem Körper­gedächtnis löst das Buch physische Wiedererkennungserlebnisse aus

Ohne zu lachen witzelt sich Witzel durch 800 Seiten „Erfindung der RAF“, der Witz des Buches ist ein spezieller, vielleicht ein Buster Keaton’scher. Ohne eine Miene zu verziehen entwirft Witzel ein Panorama der rheinhessischen Nachkriegs-BRD, das immer wieder ins Groteske kippt. Wie die Barbarei der Nazizeit in der Nachnazizeit einem barbarischen Fatalismus weicht, einem Sichergeben in die normative Kraft des Faktischen – so war das halt, es ist, wie es ist – das arbeitet Witzel aufs Blutigste durch.

Bakterien, Ansteckungen, Tiere werden gequält und gekillt, kleine Jungs werden missbraucht, der entführte Wiesbadener Junge Timo Rinnelt und der Kindermörder Jürgen Bartsch, der bei seiner „Kastrations-Operation“ gestorben ist, beide in den späten Sechzigern Stammgäste auf Bild-Titeln, sind omnipräsent als Mahnmale der nicht vergehen wollenden Barbarei, wie die Beatles als Versprechen auf ein Ende der Barbarei präsent sind.

In meinem Körpergedächtnis löst das Buch physische Wiedererkennungserlebnisse aus, was mit der biografischen wie geografischen Nähe zu Frank zu tun hat. Das born in the (mid) Fifties-Dilemma: zu jung für Hippie, zu alt für Punk, als Chance: die doppelte musikalische Sozialisation: Hippie so eben noch miterlebt, mit Punk nicht identifiziert, aber Punk als Paradigmenwechsel kapiert. Die RAF: „Und dann eben erschien die RAF. Der Teenager hätte sie sich nicht ausdenken können, und dennoch hatte er sie erfunden.“

„Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen ­manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ von Frank Witzel umfasst stolze 800 Seiten und bewegt sich zwischen Extremen: Terrorismus und Theologie, Popmusik und Piefigkeit.

Genau! Bei uns zu Hause erschien die RAF täglich auf der Bild, und je mehr Bild hetzte und dämonisierte, desto mehr bewunderte ich Gudrun Ensslin und Andreas Baader mit ihren Lederjacken in Pariser Cafés. Da wollte ich hin und Frank auch. Deshalb hat er sie erfunden. Und erinnert noch mal daran, wie haarscharf viele damals an der realen RAF vorbeigeschlittert sind. Gerade in Frankfurt. Wer warf den Molotowcocktail auf den Polizisten bei der Meinhof-Demo 76? Der spätere Außenminister? „Unter Umständen ist der Gang in die Illegalität nur durch Zufälle bestimmt.“ (S. 284) Witzel bringt den Terror zur Buchmesse. Klaus Walter

Der Autor ist Radio-DJ und macht jeden Freitag um 17 Uhr das taz.mixtape bei bytefm