Die Gesellschaft der Singularitäten
: Parlament der Unsichtbaren

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Knapp überm Boulevard

von Isolde Charim

Das Land fühlt sich nicht gehört. Das Land fühlt sich nicht vertreten“, so Pierre Rosanvallon emphatisch. Deshalb hat der französische Demokratietheoretiker ein Projekt ins Leben gerufen: „Raconter la vie“. Hier sollen jene, die nicht gehört werden, jene, die sich vergessen, unverstanden, ausgeschlossen fühlen aus dieser ach so funktionierenden Welt, ihr eigenes Leben erzählen. Diese Berichte werden gesammelt auf einer eigenen Website (www.raconterlavie.fr) und in Büchern veröffentlicht. Ziel ist es, die Gesellschaft „lesbar“ zu machen.

Auslöser für dieses Mammutprojekt ist die tiefe, alarmierende Spaltung der Gesellschaft. Die leisen Stimmen blieben ungehört, die banalen Lebensläufe missachtet. Genau hier hake der rechte Populismus ein. Dies mache ihn so erfolgreich.

Für Rosanvallon ist das ein relativ neues Problem, ein Problem des „Zeitalters der Singularitäten“. Die alte Klassengesellschaft mit ihren stabilen, klar abgegrenzten Blöcken hat den Individuen eine gesamte Darstellungspalette geboten: Organisationen, eine adäquate politische Vertretung, eine Sprache, Lieder. Eine ganze Semantik zur Einbindung in die Gesellschaft. Im Zeitalter der Singularitäten hingegen mit ihrem Streben „nach einer zur Gänze persönlichen Existenz“ funktioniert diese Integration nicht mehr. Hier gibt es keine adäquate Repräsentation der radikal Einzelnen mehr. Zugehörigkeit und Ungleichheit haben sich grundlegend verändert. Teil der Gesellschaft zu sein heißt heute, wahrgenommen zu werden. Das ist die Währung der Demokratie.

Nicht wahrgenommen werden bedeutet demnach ausgeschlossen sein. Deshalb sei heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Und genau hier müsse, so Rosanvallon, auch eine Erneuerung der Demokratie ansetzen: bei jenen, deren Leben im Dunkeln bleibe, die nicht repräsentiert werden, die nicht sichtbar sind. Deshalb nennt er sein Manifest auch: „Das Parlament der Unsichtbaren“.

Ambitioniertes Ziel des Projekts ist es, die „gesamte Gesellschaft aus der Unsichtbarkeit zu holen“, das Wissen voneinander zu befördern. Lange Zeit habe eine gewisse kulturelle Homogenität als Ersatz für dieses Bedürfnis nach echter Kenntnis gedient. In heterogenen Gesellschaften fehlt offenbar diese Fiktion, die laut Benedict Anderson die „imagined community“ der Nation funktionieren ließ: die Illusion, die Mitglieder einer Nation würden alle anderen Mitglieder kennen. Rosanvallon versucht sich an der Herkulesaufgabe, diese brüchig gewordene Fiktion in die Realität zu holen.

Die Dringlichkeit erwächst dem Projekt als explizite Abwehr des voranschreitenden Rechtspopulismus. Denn bei den „Unsichtbaren“ würden die Rechten fischen und erfolgreich sein. Statt die fiktive Figur eines einheitlichen, geeinten Volkes zu mobilisieren, solle vielmehr das „Volk im Plural“, die Vielfalt und Vielzahl seiner konkreten Existenzen selbst zu Wort kommen.

Wer soll das alles lesen?

Das Team um den Wiener Journalisten Ernst Schmiederer, der selbst ein vergleichbares Projekt in Österreich gestartet hat, hat Rosanvallons Manifest auf Deutsch herausgegeben. Bei der Präsentation in Wien wurde Rosanvallon mit Skepsis konfrontiert. Wer soll das alles lesen? Erzeugt dies nicht neuen Frust, wenn die Geschichten verhallen? Lässt sich die Gesellschaft der Singularitäten vielleicht gar nicht mehr repräsentieren?

Rosanvallon, der sein Projekt explizit in eine Reihe mit Foucault, Bourdieu und der frühen Arbeiterbewegung stellt, konterte. Das Projekt habe zwei Funktionen: eine therapeutische. Es würde den Einzelnen ermächtigen und emanzipieren. Und eine kognitive. Es würde Politikern Informationen über neue Lebens- und Arbeitswelten liefern. Eine Quelle, an die die französische Regierung bereits andocke. Rosanvallons Ziel geht darüber hinaus. Er sieht daraus eine neue soziale Bewegung erwachsen.

Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien