„Warum entwickelt niemand lustvoll Maximal-forderungen?“

Das bleibt von der Woche Der Finanzsenator hat auch in stürmischen Zeiten den Haushalt im Griff, die Zukunft des Humboldt-Forums wird neu gedacht, am Lageso bessert sich wenig, und die Verkehrspolitiker wollen sich nicht aus dem Fenster lehnen

Es wird zu klein gedacht

BERLINS VERKEHRSPOLITIKER

Was irritiert, ist der Mangel an Visionen bei Politik und Radlobby

Berlin ist Berlin, wer hätte das gedacht. Berlin ist weder Posemuckel noch Paris. Und Berlin ist auch nicht Oslo. Weswegen alle Versuche, sich beim Thema Verkehrspolitik eine Scheibe von der norwegischen Hauptstadt abzuschneiden, zum Scheitern verurteilt sind.

Als in dieser Woche zu lesen war, die neue rot-rot-grüne Stadtregierung von Oslo werde die Innenstadt für private Autos sperren, fragten wir Politiker und Radverkehrsexperten, ob das nicht ein Vorbild für Berlin wäre. Die Antworten fielen skeptisch bis distanziert aus, weder beim ADFC noch bei Grünen oder Piraten konnte man eine Blaupause für Berlin erkennen.

Wenn Sie denken, wir würden das beklagen, dann stimmt das nur halb. Denn die Vertreter einer alternativen Verkehrspolitik haben ja recht: Berlin ist wirklich nicht Oslo. Es ist sechsmal so groß, hat eine völlig andere Topografie, eine andere Wirtschaftsstruktur.

Andererseits entspricht die Osloer City, die autofrei werden soll (wovon ÖPNV, Taxis, Lieferverkehr oder Krankentransporte ausgenommen wären) flächenmäßig der Berliner Friedrichstadt. In beiden Vierteln arbeiten deutlich mehr Menschen, als dort wohnen. So absurd ist der Vergleich vielleicht doch nicht.

Was aber immer wieder von Neuem irritiert, ist der Mangel an Visionen bei Politik und Radlobby. „So wie in Oslo geht es vielleicht nicht, aber wir haben andere verrückte Ideen, um Autos aus dem Zentrum herauszuhalten“ – auch das hätte ja ihre Reaktion sein können.

Warum nur wird in Berlins Verkehrspolitik immer so klein gedacht? Warum entwickelt niemand lustvoll Maximalforderungen? Oder fordert wenigstens ein paar Experimente ein? Gerade erst hat sich Paris einen autofreien Sonntag verordnet. Solche Ideen scheinen hierzulande regelrecht ketzerisch zu sein. Claudius Prößer

Alle müssen durchs Nadelöhr

Zustände am Lageso

Die größte Angst der Menschen am Lageso ist, dass sie niemals drankommen

Voller Stolz stellte Sozialsenator Mario Czaja vor Kurzem das „Berliner Modell“ vor und richtete so die Scheinwerfer auf die frühere Landesbank in der Bundesallee. Dort werden Flüchtlinge innerhalb eines Tages registriert und können im selben Gebäude ihren Asylantrag stellen. Was am Lageso in Moabit nicht klappte, hier läuft es jetzt geordnet ab.

Eine Flucht ist weniger gut planbar. Abseits der Scheinwerfer kommen Flüchtlinge weiterhin nachts und am Wochenende am Lageso in der Turmstraße an, darunter viele Minderjährige und Familien mit Kindern. Das Amt hat dann geschlossen. In anderen Bundesländern kümmern sich die zuständigen Behörden im Moment nicht um Öffnungszeiten – sie schicken Flüchtlinge zu allen möglichen Zeiten weiter. Der Koordinierungsstab des Senats arbeitet zwar rund um die Uhr, von den Mitarbeitenden ist aber niemand vor Ort. Auch weiterhin vermitteln Ehrenamtliche private Unterkünfte und versorgen Flüchtlinge mit Essen.

Tagsüber warten auf dem ­Gelände die „Altfälle“ und Menschen, die einen Termin haben – für die Röntgenuntersuchung oder wegen der Kosten für ihre Unterkunft. Neuankömmlinge bekommen hier ihren Termin für die Bundesallee.

In dieser Woche hat sich gezeigt, dass sich insgesamt kaum etwas geändert hat. Das Lageso ist weiterhin das Nadelöhr, durch das alle Flüchtlinge irgendwann müssen. Ihre größte Angst ist, dass sie niemals drankommen. Deshalb stellen sich nachts Familien mit Kindern in die Reihe. Deshalb campieren weiterhin jede Nacht Flüchtlinge vor dem Lageso, Hunderte drängen sich in den frühen Morgenstunden in den Warteschlangen. Deshalb stürmen viele morgens das Gelände, sobald der Sicherheitsdienst den Zaun öffnet. Regelmäßig kommt der Notarzt, denn wer schwach, krank, klein oder im Weg ist, wird überrannt.

Die Sozialverwaltung kennt die Missstände – handeln tut sie anderswo. Für die Menschen am Nadelöhr Lageso heißt das: „Da müsst ihr halt durch.“ Die Gefahr, dass ein Mensch an einem Zaun stirbt – diese Gefahr ist am Lageso jeden Morgen groß.

Uta Schleiermacher

Die Türen wurden aufgemacht

HUMBOLDTLAB denkt neu

Veränderungen wurden angestoßen, deren Weiterwirken man erhofft

Sie reden schwäbisch und bauen an ihrem Haus auf der Schwäbischen Alb; sie reden deutsch und französisch auf der Geburtstagsfeier mit Verwandten aus Frankreich; sie reden Hmong und erzählen von der nicht einfachen Suche nach Heiratskandidaten unter anderen Hmong in ihrer weit verstreuten Diaspora. Der Film „Hmong sein. Begegnung mit einer Familie“ von Bettina Renner, Barbara Schindler und Roland Platz entstand im Rahmen des Humboldt Labs in Dahlem, das am Sonntag letzter Woche zu Ende ging. Er erzählt nicht nur eine erstaunliche Geschichte von Migration aus Laos, von weitreichender Inte­gration und der Sehnsucht nach bewahrter Differenz, sondern ist auch ein gelungenes Beispiel für die Herangehensweisen an ethnologische Themen für das zukünftige Humboldt-Forum.

Vier Jahre lang und mit 4,1 Millionen von der Kulturstiftung des Bundes und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gefördert, hat das Humboldt Lab in 30 Projekten auf sogenannten Probebühnen gearbeitet. Sie haben für die zukünftigen Ausstellungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, die einer von drei Trägern im Humboldt-Forum in Mitte sein werden, einige Module entwickelt und vor allem neue Formen der Zusammenarbeit getestet zwischen Kuratoren aus Berlin, Künstlern und Wissenschaftlern aus den Herkunftsländern der bisherigen Sammlungsgebiete. Veränderungsprozesse wurden angestoßen, auf deren Weiterwirken in der Zukunft die Teilnehmer jetzt hoffen. Die Türen wurden aufgemacht.

„Konsultieren, teilen, zusammenarbeiten!“, hat das Lab in seiner abschließenden Pressemitteilung als Resümee und Motto für die Zukunft ausgegeben. Das klingt einleuchtend – und – in dem Wunsch, auf Augenhöhe etwa mit Partnern aus afrikanischen und südamerikanischen Ländern zu arbeiten – auch nicht mehr als politisch korrekt. Dass es angesichts jahrzehntelang gefestigter Strukturen eines hie­rarchisch aufgebauten Apparats wie der Museen kein einfaches Unterfangen wird, lässt sich auch ahnen. Denn es be­deutet nicht nur, Wissen zu teilen, ­sondern auch, Deutungsmacht abzugeben.

Katrin Bettina Müller

Die Magie des Finanz-senators

Haushalt ohne Schulden

Trotz gestiegener Flüchtlingszahlen die einfache Rechnung: Es ändert sich nichts

Matthias Kollatz-Ahnen ist eher ein nüchterner Politiker; bedient er sich ausnahmsweise der Ironie, macht er das sehr deutlich, damit es auch bloß jeder verstehen möge. So auch am Dienstag, als sich der Finanzsenator redlich mühte, den nach der Senatspressekonferenz versammelten Journalisten die Auswirkungen a) der gestiegenen Flüchtlingszahlen und b) des jüngsten Finanzdeals zwischen Bund und Ländern auf den Berliner Doppelhaushalt 2016/17 deutlich zu machen. Dabei ist das, zumindest nach Einschätzung des hessischstämmigen SPD-Politikers, eine ganz einfache Rechnung: Es ändert sich nichts.

Trotzdem sprach Kollatz-­Ahnen vielsagend lächelnd von einem „Magic Trick“: Die zusätzlichen Gelder des Bundes in Höhe von rund 200 Millionen Euro im Jahr 2016 würden nämlich die steigenden Ausgaben des Landes Berlin komplett ausgleichen. Eine Neuverschuldung sei deswegen nicht nötig, genauso wenig wie ein Abbau von Leistungen in anderen Bereichen. Der Finanzsenator geht von rund 50.000 in der Stadt lebenden Flüchtlingen aus, um die sich das Land kümmern müsste.

Auf den ersten Blick ist also wenig Magie im Spiel. Dennoch darf man das Rechenspiel durchaus als zauberhaft bezeichnen. Denn es ist nicht auszudenken, welche Neid­debatten wohl aufkommen würden, wenn die Aufnahme von Flüchtlingen nicht – sozusagen – umsonst wäre; wenn Unterkünfte und neue Kitas gegeneinander aufgerechnet würden oder Deutschkurse gegen geplante Schwimmbäder. Machen wir uns nichts vor: Würde Deutschland derzeit wirtschaftlich schwächer dastehen, wäre die Atmosphäre vor den Asylbewerberheimen eine ganz andere. Vielleicht würden nicht weniger Menschen helfen, aber die Auseinandersetzung mit jenen, die sich nicht engagieren, wäre konfrontativer. Es wäre ein Armutszeugnis, im doppelten Wortsinn.

Das heißt freilich nicht, dass diese Debatten nicht noch kommen können. Denn derzeit wird viel über die Aufnahme von Flüchtlingen geredet und wenig über deren Integration – eine schwierige Aufgabe, die sich je nach weltpolitischer Lage noch viele Jahre hinziehen dürfte. Hoffentlich hat der Finanzsenator noch einige Magic Tricks parat. Bert Schulz