Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 7: Lale lacht die Doofen aus

Krabumm!“

Die Erschütterung ließ die Löffel in den Teegläsern klirren.

„Kradeng!“

Ein gewaltiger Kran schwenkte seinen Arm hoch über den Köpfen.

„Määääähäähäähäääää!“

Vergeblich bemühte sich eine Frau in fliederfarbenem Kostüm, ihr Enkelchen zu trösten. Es weinte so bitterlich, dass Fritze sich intuitiv ans Herz griff.

Innerhalb weniger Tage hatte sich der zum Friedhof führende Teil der Straße in eine Großbaustelle verwandelt. Wo eben noch die Spatzen gepiept, Mütter ihre Kinderwagen nebeneinander hergeschoben, Flaschensammler friedlich an der Pfandabgabestelle beieinander gestanden hatten, versank alles in Staub, Lärm und Bauarbeitergebrüll. Im Karree um das blaulicht, den Supermarkt und den Bioladen hatten sie mehrere Fassaden eingerüstet und sogleich begonnen, die Wände einzureißen und Balkone abzuschlagen. Die betreffenden Gebäude hätten nach Meinung der Passanten und Anwohner keiner weiteren Aufhübschung bedurft, waren sie doch erst vor wenigen Jahren entkernt und vollständig saniert worden, was eine erste Fluchtwelle ausgelöst hatte.

„Flucht? Dit sind Vertriebene!“

Fritze kannte niemanden, der seine Wohnung freiwillig verlassen würde. Und Fritze hatte hier einstmals jeden gekannt. Doch von denen waren viele längst verschwunden. Ihr Zorn erkaltete langsam in Behausungen außerhalb des alten Kiezes. Das neue Quartier, wie das jetzt hieß, hatte diese Leute ausgespuckt wie alten Kaugummi. Fritze hielt das Kindsgeplärr und den Staub nicht mehr aus. Er nickte der Bioladenfrau von nebenan flüchtig zu und trug sein leeres Teeglas ins blaulicht,wo Lale versunken im Spüleimer fischte. Für einen Augenblick hielt er inne und betrachtete ihren weißen, warmen Hals.

„Bis später!“

„Bis später!“

Die Bewohner des letzten unsanierten Hauses versuchten, es mit Fassung zu tragen. Ringsum bohrten, hämmerten, sägten, frästen und zerkloppten Bauerbeiter aller Nationalitäten die Gemäuer. Nur sie selbst saßen weiter in ihren ofenbeheizten Wohnungen ohne Tageslicht, in denen es bröckelte, moderte, faulte und stank. Seit sich der Fahrstuhl gegenüber lautlos zwischen den Stockwerken hin und her bewegte, während sie weiterhin ihre schweren Kohleneimer die Treppen hinauf schleppten, war nicht mehr zu verleugnen, dass die Eruptionen auch sie betrafen, ihre Körper und Geister.

Lale mochte die Putzschicht. Es war so schön still, dass sie das Ticken der Wanduhr im hinteren Gastraum hören konnte. Schon in der Schulzeit war ihr Mitteilungsdrang, die Lust, andere an ihren Abenteuern teil haben zu lassen, mit Argwohn betrachtet worden. Nicht nur von den Mitschülern. Schneller als Djangos Finger die Saiten seiner Gitarre zum Schwingen zu bringen vermochten, hatte sich ihr Ruf als Spinnerin, als Flunkertante verbreitet. Seither wusste sie, dass die meisten Menschen Langweiler waren, phantasielos und gemein. Und doof. Nur die wenigsten konnten ja Schmu von Tacheles unterscheiden. Aber hier im blaulicht war für Lale alles möglich, das eine wie das andere, das Reden und das Schweigen. Später, umzingelt von den wortkargen Tresenhockern, würde sie wieder ihre Geschichten auspacken, die echten, die falschen. Hier machte es keinen Unterschied, gefiel, verschaffte ihr Respekt und steigerte sogar den Umsatz! Aber jetzt, allein im Laden, genoss sie ihr Schweigen.

Die Leute vom Ordnungsamt waren Anne unheimlich, was an den Uniformen liegen mochte und diesem lässig-stolzierenden Gang, mit dem die Tag und Nacht die Straße langmarschierten. Was sie aber nun beobachtete, während sie, in einer Staubwolke versinkend, die Tische vor ihrem Geschäft abwischte, schlug dem Fass den Boden aus. Wie die Geier stürzten die sich auf parkende Fahrzeuge, gierig und miteinander wetteifernd. Tatsächlich profitierten diese Leute vom Verkehrschaos, das rund um die Baustellen ausgebrochen war. Nicht mal die Anwohner bekamen noch einen Platz vor der Tür, standen Arm fuchtelnd in der Gegend, parkten verzweifelt in zweiter und dritter Reihe.

„Ihr elenden Arschmaden!“

Verblüfft von der eigenen Ausfälligkeit, ließ sie den Lappen fallen, stürzte in den Laden, rannte dabei fast eine Kundin um und entschuldigte sich bleich: „Sorry, war nicht so gemeint. Noch einen Roibusch vielleicht?“

Der Komponist saß am Klavier und brummte vor sich hin. Normalerweise beruhigte ihn das. Schon bei Tagesanbruch hatte er wach gelegen und sich vor dem Eintreffen der Bauarbeiter gefürchtet. Ab sieben in der Frühe regnete deren ungeschliffene Prosa auf ihn herab, aus dem Obergeschoss nebenan, das sie komplett abdeckten. Das ging schon die ganze Woche so. Er hatte sich in den letzten Jahren zu selten länger hier aufgehalten und konnte die Gewöhnung seiner Mitbewohner zwar begreifen, aber nicht nachempfinden. Sie improvisierten. Und er? Nun sah er sich zum ersten Mal mit dem konfrontiert, was sein Nachbar Django immer wieder wortreich beklagt hatte: „Die rauben uns unser Zuhause!“

Die Verblüffung stand Anne ins Gesicht geschrieben, als plötzlich Hildegard, die blaulicht-Chefin, in der Tür stand: „Tach.“

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels, Jg. 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band „Der Singende Tresen“. Soeben erschien beim Verbrecher-Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com

„Wie komm ich denn zu der Ehre?“

Gern hätte sie etwas Netteres gesagt. Aber jetzt ging das nicht mehr, der Moment war vorbei. Hildegard ließ sich nichts anmerken, trat auf sie zu und raunte ungewohnt vertraulich:

„Wir müssen reden.“

„Jetzt?“

„Wie wär’s nach Feierabend, dann sind wir ungestört.“

Die Wirtin blickte misstrauisch um sich, als trüge sie einen Schatz bei sich, einen Schatz, den sie bereit wäre, mit allen Mitteln zu verteidigen. Dann wandte sie den Blick wieder Anne zu. Sie erwartete eine Antwort.

„Äh … ja klar.“

Gerne hätte Anne nachgefragt, worum es der Nachbarin ging. Aber da war die bereits entschwunden. Nach nebenan, wo nun die Frühschicht begann.