die gesellschaftskritik
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Foto: Ralf Roeger/dpa

Die Bahn im Dorf lassen

WAS SAGT UNS DAS?Die Bahn hat Verspätung, die Klos und Klimaanlagen sind kaputt und Essen – vergiss es! Aber da gibt es eben noch diesen klitzekleinen Vorteil

Wir lieben Sonntagszeitungen – wir wären ehrlich gesagt oft selbst gern eine. Gerade an diesem Wochenende wäre es mal wieder schön gewesen: „taz am Sonntag“ – natürlich mit einem riesigen TTIP- Aufmacher. Berichte, Beobachtungen, Glossen; Erinnerungen an die Bonner Hofgartendemo 1983 oder 1981 – oder wann noch mal? Wir als taz hätten jedenfalls geglänzt (machen wir jetzt halt heute).

Aber was hat die Sonntagszeitung aus Frankfurt, die wir hier stattdessen eben lesen, getan? Meldet auf Seite 1 ganz klein rechts unten mit Agenturmeldung (!): „Großdemo gegen Handelsabkommen“. Und dann eine magere halbe Seite in der Wirtschaft.

Statt TTIP haben wir aus Frankfurt das bekommen: „Jeder dritte ICE fährt mit Verspätung“. Der große Bahnpannenreport geht so los: „Plane bloß niemand mit der Bahn, der einen festen Termin hat. Wer momentan im ICE reist, braucht gute Nerven, Zeit und eine gehörige Portion Flexibilität.“ Und dann kommen all die Gründe, warum bei der Bahn echt „alles zu spät“ sei.

Da haben wir die Zeitung sinken lassen: Und an einen Artikel aus der Wochentagsschwester der Sonntagszeitung gedacht vom Schriftsteller Thomas Gsella. Dessen Schwester und Nichte waren voll flexibel – und dementsprechend langsam auf einer deutschen Autobahn unterwegs. Sie wollten einfach nur die Nerven entspannen. Auf Usedom. Aber sie kamen dort nie an. Sie starben „fürchterlich verletzt infolge eines jener Auffahrunfälle, wie sie fast überall in Europa kaum je tödlich enden, immer wieder aber in Deutschland, dem einzigen Land Europas, das die Geschwindigkeiten auf Autobahnen nicht gesetzlich begrenzt“.

Die deutsche Bahn, heißt es im Artikel unserer Sonntagszeitung, arbeite „mit Hochdruck daran, die Situation zu verbessern“. Die Lage sei „nicht zufriedenstellend“.

Ende Oktober geht es mit Familie von Berlin zu den Großeltern. Mindestens sechs Stunden deutsche Autobahn – die Großeltern wollen uns diesmal einiges mitgeben. Sonst würden wir wie immer mit der Bahn fahren. Weil wir mit der all die Jahre immer angekommen sind – manchmal hungrig, manchmal zu spät, manchmal genervt. Aber immer: am Leben.

„Geduld“, schließt unsere Sonntagszeitung, „das kennt der Fahrgast, gehört bei der Bahn dazu.“ Mit all den Irren, die wieder drängeln, ausbremsen und ausflippen werden, brauchen wir eine ganz andere Tugend: Todesverachtung. AMBROS WAIBEL