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Ich will keine Orgasmuskolumne schreibenSchmerz statt Ekstase

Foto: privat

Unter Schmerzen

von René Hamann

Werden wir jemals wieder die Sonne sehen? Oder werden diese grauen Tage ewig dauern? Werden unsere Seelen je geheilt, unsere deformierten Körper je wieder in Einklang und Proportion zu sehen sein? Werden wir uns jemals wieder ausstrecken können auf einer sattgrünen Wiese und uns selbstvergessen wohlfühlen?

Wohl kaum, denn überall blühen die Widersprüche. Auch ziehen wir, so die Psychologin Ale­xandra Schwarz-Schilling im September in dieser Zeitung, der möglichen Ekstase stets den Schmerz vor, wir empfinden unser tägliches Leiden als sichere Bank. In ihren Worten: „Schmerz ist in unserer Gesellschaft nicht verpönt, Ekstase schon.“ Das klingt zwar ziemlich hippiemäßig, was die Ekstase betrifft (ich muss da an einen Kiffer-Club im niederländischen Nijmwegen denken, der eben „Ekstase“ hieß), denn das mit der sexuellen Befreiung hatte eben auch etwas pädagogisch Unangenehmes, bevor sie dann mit dem neobürgerlichen Backlash endgültig erledigt war, der seinerseits ungefähr mit Aids begann und seitdem irgendwie nicht mehr aufhören will. Also keine Ekstase: „Wir flüchten lieber in unsere Komfortzone des Leidens, das ist bekannt und sicher.“

Ich ja auch, siehe Kolumnentitel, oder wollen Sie künftig lieber eine Orgasmuskolumne lesen? „Unter Ekstase“? So etwas, ich sage es besser gleich, können Frauen besser. Und ich habe so schon genug damit zu tun, den Nachfragen der Kollegen und Freunde auszuweichen. Denn immer wollen alle alles wissen.

Das ist wie damals, als man noch zu Hause wohnte. Also bei den Eltern. Die auch immer alles wissen wollten. Von den ekstatischen Ausflügen in die Rauschoasen der benachbarten niederländischen Universitätsstädte aber etwa nichts wissen durften. Die immer dann nötig wurden, wenn der Weltschmerz und der private wegen Liebe und den Eltern selbst und ihrer Scheidung einfach zu groß wurden. Der Rausch diente nämlich auch der Betäubung.

Aber selbst in der Politik geht ja nichts ohne Eltern. Man muss dabei nicht einmal an Begriffe wie Ziehsöhne oder Mutti denken. In Österreich beispielsweise, folgt man der Beobachtung von Norbert Mappes-Niedek aus der Berliner Zeitung vom Montag, sind die Sozial- und die Christdemokraten für den gemeinen Kleinbürger die Altvorderen, die Großkopferten, kurzum: die Eltern. Will man da rebellieren, muss man Grün wählen oder die fast verschwundene KPÖ. Oder eben rechts.

Es blühen die Widersprüche.

In Deutschland ist das etwas anders. Da könnte man sich als unfertiger Erwachsener oder ewiges Kind auch mit der SPD identifizieren, wenn das nur an sich nicht so traurig wäre. Denn die SPD ist laut den verehrten Kollegen Ulrich Schulte und Christian Schneider (siehe taz vom letzten Wochenende) mehr oder weniger wie ich: Sie hat „das Problem des Unterlegenen. Sie nimmt die Position des rebellischen Kindes ein“, will andererseits aber eben zur Macht. So bleibt sie ewig „unsicher, nervös und zerrissen. Sie ruht nicht in sich selbst. Diese Partei handelt nicht mehr von einer festen Basis aus. Deshalb ist sie auch so abhängig von Erfolgen.“

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