„Die Reaktion auf Pisa ist der Schiffbruch“

Ungerechte Schulen hemmen das Wachstum, sagt Thomas Straubhaar vom Hamburger Weltwirtschaftsarchiv

taz: Herr Straubhaar, deutsche Schulen privilegieren die Kinder reicher und gebildeter Eltern. Ist das richtig?

Thomas Straubhaar: Nein, das ist völlig falsch. Es widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen, die Kinder der Oberschicht zu bevorzugen. Das ist deswegen so schlimm, weil es einer offenen, liberalen Gesellschaft die Legitimation entzieht. Und es ist übrigens auch ökonomisch dumm.

Warum?

Talente haben nichts mit arm und reich zu tun. Wir dürfen uns nicht die Chance vergeben, das Potenzial aller Kinder maximal auszuschöpfen.

Was bedeutet das für die Volkswirtschaft?

Es ist ein Wachstumshemmnis erster Güte. Die Pisastudie und die politischen Reaktionen darauf sind die Schiffbruchserklärung für eine Nation, die nur einen Rohstoff hat: Wissen. Bildung und Wissenschaft sind im 21. Jahrhundert die wichtigste Triebkraft für Wachstum. Deutschland vernachlässigt diesen Bereich sträflich.

Immerhin, die neue Koalition will mehr Geld für Bildung auszugeben.

Das ist auch richtig. Aber gleichzeitig wird das zuständige Ministerium zerteilt. Ein ungutes Signal – gerade für die Zukunft.

Weil dem Land die Qualifizierten ausgehen?

Gesellschaft und Industrie brauchen schon in wenigen Jahren mehr Hochqualifizierte und nicht weniger. Das müssen nicht alles Akademiker sein. Nur muss jeder die Chance haben, sich die besten Karrierechancen zu erarbeiten.

Warum reagiert die Politik so träge auf Pisa?

Die Öffentlichkeit hat Pisa als so einschneidend empfunden wie den Sputnikschock in den 60ern, als die Russen mit dem Sputnik den Weltraum eroberten. Die Menschen spüren, dass Schulen nicht zukunftsfähig sind, wenn sie so bleiben, wie wir sie aus dem letzten Jahrhundert kennen. Die Politik klammert sich ans Traditionelle.

Was empfehlen Sie?

Der Staat sollte sich aus der Organisation der Schulen zurückziehen. Die einzelne Schule sollte dafür viel mehr Freiheit bekommen. Sie muss sich nur an wenigen nationalen Leistungsstandards orientieren. Und: Der Bund sollte gezielt Kinder aus unteren Schichten fördern.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER