Mr. Dollar – der Ruf des mächtigen Gentleman

exodus II Der kubanische Baseball verliert seine Talente an die US-amerikanischen großen Ligen. Die Gehälter in Kuba sind einfach nicht konkurrenzfähig

Von Michel Contreras

Vor einem Vierteljahrhundert, bei den Olympischen Spielen von 1992, belegte Kuba den fünften Rang im Medaillenspiegel. Obwohl schon damals die ersten Anzeichen der durch den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers verursachten großen Depression zu spüren waren, strotzte die Insel – über den Sport – vor Nationalstolz. Die Zeit verging, die Krise blieb, und vor ein paar Wochen, bei den Pan­amerikanischen Spielen in Toronto, zerstoben endgültig alle Illusionen.

Am Schluss lagen die USA, Kanada und Brasilien vor Kuba. Zum ersten Mal gelang es nicht, die Vorgabe „zweiter Platz“ im Medaillenspiegel zu erfüllen, die Kuba trotz allem seit 1971 verteidigt hatte. Seit jener Zeit hatte Kuba niemals weniger als 40 erste Plätze gelegt oder insgesamt weniger als 100 Medaillen errungen. Und so gab es diesmal lange Gesichter bei den Sportfunktionären, enttäuschte Fans, der Nationalstolz wehte auf Halbmast und eine Frage ging von Mund zu Mund: Was war da bloß geschehen?

Den schlimmsten Eindruck – allerdings auch den treffendsten, was die Gründe des Desasters anging – hinterließen die Feldhockeymannschaften. Männer und Frauen gleichermaßen traten mit jäh dezimierten Teams an. Eine Epidemie? Verletzungen? Nichts dergleichen. Die Athleten (acht Männer und sieben Frauen) hatten schlicht die Delegation verlassen, um in Kanada ihr Glück zu versuchen. Die übrig gebliebenen Männer mussten in Unterzahl gegen Trinidad y Tobago antreten, die Frauen ereilte das gleiche Schicksal gegen die Dominikanische Republik. Das Ergebnis war zu erwarten: auf Wiedersehen, Träume!

Nur nebenbei sei erwähnt: Als die Hockeyspieler in Kanada das Weite suchten, da waren vier Mitglieder des Ruderteams bereits weg. Und kurz vorher, während des Gold-Cups in den USA, hatten sich vier weitere Sportler abgesetzt. Auch sie waren den Weg gegangen, den die offizielle Presse fälschlich und tendenziös „Desertion“ nennt.

Erstaunlicherweise erreicht die Zahl der Sportler, die „von Bord gehen“, genau in dem Moment einen Höhepunkt, als sich mit einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse auf der Insel verbinden.

Es ist riskant, das zu versuchen. Das El Dorado liegt 90 Seemeilen entfernt. Einige unternahmen (und unternehmen) das Abenteuer, in kleinen Booten das Meer zu bezwingen. Andere, etwas Ängstlichere, warten auf die Gelegenheit, sich bei einem Wettkampf im Ausland des Nachts aus dem Hotel zu schleichen.

Und all das, obwohl es seit September 2013 ein neues System von Verträgen und Honoraren für Sportler und Trainer gibt, als Teil der von Raúl Castro angestoßenen Wirtschaftsreformen. Einige hatten gehofft, so den Hahn wieder schließen zu können. Aber das war alles Illusion. Vor ein oder zwei Jahrzehnten hätte dieser Plan, mit finanziellen Anreizen zu arbeiten, noch wunderbar funktioniert. Heute aber, mit steigenden Preisen in Kuba und dem Weg zum American Way weit geöffnet, ist es vollkommen absurd zu glauben, dass die Gehälter auch nur ansatzweise mit den Millionen konkurrieren könnten, die der Nachbar im Norden anzubieten hat.

Die Talente hauen ab. Und der einzige Grund – vergessen wir das abgedroschene Argument der politischen Verfolgung – ist dieser mächtige Gentleman, Mr. Dollar.

Kubas Sport ist der Baseball. Nichts wird enthusiastischer bejubelt als ein Sieg, nichts stimmt trauriger als eine Niederlage. Seit Jahren schreitet der kubanische Base­ball international von Niederlage zu Niederlage. Keine Sportart verliert jedes Jahr so viele Sportler wie der Baseball. Es ist klar, warum: Ein Spieler der kubanischen Serie Na­cio­nal verdient ein Gehalt von rund 1.000 Pesos, umgerechnet rund 40 Dollar. Sein Landsmann aber, der weggeht, erhält Verträge, deren Stellen vor dem Komma man kaum noch zählen kann.

Die Gehälter der knapp 30 kubanischen Spieler, die zu Beginn des Jahres in der Major League antraten, betragen zusammen ungefähr 135 Millionen US-Dollar. Der Bestbezahlte von ihnen ist Rusney Castillo von den Boston Red Sox. Er verdient 11.27 Millionen Dollar im Jahr, und er hat einen Mehrjahresvertrag über insgesamt 72.5 Millionen Dollar.

Die schwindelerregende Abfolge von „Desertionen“ hat dafür gesorgt, dass das kubanische Talent ein Bezugspunkt in der Major League geworden ist. Um es mit Fußballvergleichen zu sagen: Yasiel Puig ist so spektakulär wie Mario Götze, Yoenis Céspedes hat den gleichen Torhunger wie Thomas Müller, und José Dariel Abreu die imperiale Aura eines Toni Kroos.

Diese Männer – und die Stars des Boxens, Ringens, Leichtathletik, Judo, Volleyball …würden alle gern im kubanischen Trikot antreten, wenn sie nicht eine andere Liga bei der Entlohnung suchen würden. Eines schönen Tages gingen sie, und die „Titanic“ fing an, vollzulaufen, bis sie unterging, nach der Kollision mit den Eisbergen von Toronto.

Letztlich: Wo gehobelt wird, fallen Späne …

Michel Contreras,43, Sportkolumnist bei der staatlichen Online-Publikation „Cubadebate“, schreibt auch für OnCuba.