„Viele haben die Dramatik unterschätzt“

SPD-Vorstandsmitglied Martin Schulz bedauert den Rückzug von Franz Müntefering. Für den Europaparlamentarier aus NRW liegen die Gründe für den Sturz des Parteivorsitzenden in der Grauzone zwischen Putsch und Betriebsunfall

taz: Herr Schulz, für wen haben Sie gestern als SPD-Generalsekretär gestimmt: Andrea Nahles oder Kajo Wasserhövel?

Martin Schulz: Geheime Abstimmungen sind geheime Abstimmungen. Der Verlauf der Debatte im Vorstand zeigte jedoch, dass ein besonderes Loyalitätsverhältnis zum Parteichef geboten war.

Ihre nordrhein-westfälischen Kollegen im SPD-Vorstand haben mehrheitlich gegen Franz Münteferings Kandidaten gestimmt.

Wahrscheinlich. Sonst hätte es dieses Ergebnis nicht gegeben.

Sind Sie enttäuscht?

Ich habe immer versucht, Andrea Nahles und Sigmar Gabriel als junge Vertreter der großen Parteiflügel an einen Tisch zu bekommen. Ich bin für einen integrativen Kurs bei dem anstehenden Generationswechsel in der SPD. Das heißt: Man muss beide einbinden. Ich war allerdings der Meinung, dass der Generalsekretärsposten nicht der richtige Job für Andrea Nahles ist. Das habe ich ihr auch mehrmals persönlich gesagt.

Haben die Nahles-Unterstützer Franz Münteferings Reaktion unterschätzt?

Ich hatte den Eindruck, dass sich die meisten Vorstandsmitglieder die Dramatik nicht vorstellen konnten, die am Ende der Sitzung aufgekommen ist.

Hat Müntefering in der Sitzung denn nicht angedeutet, dass er im Fall einer Niederlage zurücktreten werde?

Man konnte schon hören, dass er der Angelegenheit große Bedeutung beimaß. Konkrete Rücktrittsdrohungen habe ich aber nicht vernommen.

Die SPD-Linke sagt nun: Das Ganze war ein Betriebsunfall, das haben wir nicht gewollt. Glauben Sie das?

An allem, was an solchen Tagen an Analyse auf den Tisch kommt, ist ein bisschen Wahrheit und ein bisschen Übertreibung. Aber klar war: Andrea Nahles hatte zwei Möglichkeiten. Sie hätte auch Heidemarie Wieczorek-Zeul als stellvertretende Parteivorsitzende herausfordern können, statt als Generalsekretärin zu kandidieren. Auch die Unbeweglichkeit von Wieczorek-Zeul hat zu der schwierigen Situation beigetragen, die wir jetzt haben.

Geht es nur um Unbeweglichkeit einzelner Personen, oder hat die SPD-Linke bewusst die Konfrontation gesucht?

Ich glaube, dass die Entscheidung nur sehr wenig mit Programmatik zu tun hatte. Die SPD ist gestern nicht nach links oder nach rechts gerückt.

Die Koalitionsverhandlungen in Berlin gehen also ungestört weiter?

Franz Müntefering führt die Koalitionsverhandlungen weiter, das hat er gestern sehr entschlossen klar gemacht. Die SPD hat klare Ziele in dieser Koalition, und in vielen Punkten sind diese Ziele schon erreicht worden. Die Kapitulation der CDU bei ihrer Forderung nach Abbau der Arbeitnehmerrechte ist schon ein großer Erfolg, den wir in den Verhandlungen erzielt haben. Und auch bei den Themen Tarifautonomie und Kopfpauschale ist die CDU von ihren Positionen abgerückt.

Was nützen thematische Erfolge, wenn die Personallage nicht mehr klar ist – weil Franz Müntefering demontiert ist und Edmund Stoiber beleidigt in Bayern sitzt?

Franz Müntefering hat weiterhin die Handlungsvollmacht für die Koalitionsverhandlungen. Egal, wer nach ihm Parteivorsitzender wird – er wird Müntefering den Rücken stärken.

Kurt Beck und Matthias Platzeck werden als Parteivorsitzende gehandelt. Haben Sie einen Favoriten?

Ich glaube, dass beide hervorragende Parteivorsitzende wären und die SPD mit einem großen Integrationspotenzial führen könnten. Wir brauchen einen handlungsfähigen, starken Mann, um die SPD an der Spitze zu stabilisieren. Beide kommen dafür gut in Frage.

Seit der verlorenen NRW-Landtagswahl wirkt die SPD weder stabil, noch besonders handlungsfähig.

Das sehe ich nicht so. Wir hatten auch nach dem 22. Mai ein hohes Maß an Stabilität. Bei der Bundestagswahl haben wir die CDU in NRW mit acht Prozentpunkten deklassiert. Im letzten halben Jahr gab es nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Jetzt sind wir in einem Tal, das gebe ich zu. Aber ich glaube, dass wir auch da wieder herauskommen. Eine große Volkspartei hängt nicht von einzelnen Personen ab.

INTERVIEW: KLAUS JANSEN