Wenn Frauen nicht Hauslehrerinnen sein können

Bayerns sozial selektive Schule. Oder: Wie es kommt, dass im Freistaat SchülerInnen trotz guter Noten nicht ins Gymnasium gehen wollen

Katja Durin (Name geändert) konnte es nicht fassen. Der Lehrer ihres Sohnes Max bestellte sie für 14 Uhr. Dabei hatte sie seinen ersten Terminvorschlag 13 Uhr mit der Begründung abgelehnt, dass sie erst früh abends von der Arbeit im 50 Kilometer entfernten München zurück sei. Durin entschloss sich, einen Tag Urlaub zu nehmen. Immerhin ging es um ihren Sohn, einen Erstklässler, mit dem die Verwaltungsangestellte erst wenige Wochen vor der Einschulung aus Berlin in ein Dorf nach Bayern gezogen war.

Der Lehrer sprach Klartext. Nein, der Termin 14 Uhr war kein Missverständnis, sondern Absicht. „Was soll aus Ihrem Sohn werden, wenn Sie tagsüber nicht für ihn da sind? Ihr Sohn hat gerade mit der Schule begonnen und braucht Ihre Hilfe bei den Hausaufgaben“, erklärte der Lehrer und forderte: „Überdenken Sie Ihren Lebensstil.“ Das slowakische Au-Pair-Mädchen, das die Kinder betreue, könne jedenfalls keine Hausaufgabenhilfe leisten, meinte er.

Die Ratschläge kamen der Berlinerin vor wie Signale von einem anderen Planeten. Schließlich war sie des Jobs wegen in den Münchener Speckgürtel gezogen. Würde sie kündigen, hätte sie ebenso gut in Berlin bleiben können. Während ihres Wirtschaftsstudiums hatte Katja Durin zwei Kinder bekommen. Sie besuchten selbstverständlich die Kita – während sie in der Uni saß und ihr Mann arbeitete.

Doch Max’ bayerischer Lehrer präsentierte ihr nun Hefte mit unvollständig erledigten Hausaufgaben. „Ihr Sohn hat das Zeug zu einem guten Schüler. Aber er kann sich noch nicht ohne Hilfe auf die Hausaufgaben konzentrieren.“ In den Folgetagen verglich Katja Durin die schulischen Anforderungen in Bayern mit denen in Berlin. Es war ganz klar: Max hatte bereits deutlich mehr Buchstaben und Zahlen gelernt als seine alten Kindergartenfreunde in der Hauptstadt. Schließlich haben auch die Pisa-Studien Bayern bessere Werte bescheinigt.

Während Max’ Berliner Freunde 15 Minuten täglich Hausaufgaben erledigten und 15 Minuten Lesen üben sollten, verlangte die bayerische Schule von Max mehr als eine Stunde Hausaufgaben täglich. Er sollte Lesen üben, Schreibübungen machen, basteln, Lieder lernen … Doch während in Berlin Horte Hausaufgabenbetreuung leisten, muss in Bayern die Mutter diese Aufgabe wahrnehmen. Offenbar zahlen die bayerischen Mütter den Preis für die Pisa-Erfolge ihrer Kinder.

Max’ Lehrer aber hörte gar nicht mehr auf mit seiner Suada. Mehrere Eltern hätten ihn gebeten, Frau Durin klar zu machen, dass ihr Sohn nicht nach Schulschluss zum Spielen zu ihnen nach Hause kommen solle. Es störe den Familienablauf, wenn beim gemeinsamen Kaffeetrinken ein Fremder dabei sei.

Katja Durin schluckte. Sie hatte bereits bemerkt, dass den Eltern von Max’ Freunden der Umgang mit ihrem Sohn nicht recht war. Sie dachte, das liege daran, dass ihre Familie aus dem Osten komme. Und am Sonntag nicht in die Kirche gehe. „Gelte ich vielleicht als asozial?“, fragte sich Katja Durin nach dem Gespräch. „Weil ich arbeiten gehe und meine Kinder einem Au-Pair-Mädchen überlasse?“

Max’ Einschulung liegt heute gut vier Jahre zurück. Jetzt besucht der Junge die fünfte Klasse einer Realschule. Seinen Leistungen nach hätte er ein Gymnasium besuchen können. Aber um nichts in der Welt war Max dazu zu bewegen gewesen. Die Mutter verstand ihren Sohn: Aufs Gymnasium gingen die alteingesessenen Dorfjungen. Das waren jene, die ihn mobbten und deren Eltern ihn nicht zu Hause haben mochten. Der Zugang zu Bildung, diese Lektion hatte Katja Durin verstanden, hing in Bayern nicht nur von den Schulleistungen ab. Sondern auch vom sozialen Status. MARINA MAI