Der Welt entrückt

Im sehenswerten Drama „Liebe Amelie“ kämpft eine Familie realitätsnah gegen die schwere Depression der 17-jährigen Tochter (ARD, 20.15 Uhr)

Von Silke Burmester

Der Film beginnt mit einer Feier. Die Familie hat Freunde und Bekannte in ihre neue Wohnung in München eingeladen. Sie feiern den Neuanfang nach Arbeitslosigkeit und Affäre, und weil der Zuschauer das Fremdgehen als Fluchtversuch des Vaters noch nicht kennt, freut er sich, ein Ehepaar zu sehen, das sich immer noch liebt. Nach mindestens 17 Jahren Partnerschaft.

So alt ist Amelie, die Tochter, die als Einzige nicht in München heimisch wird, die keinen Zugang und keine Freunde findet und die an der Schwelle zum Erwachsenenalter den Schmerz empfindet, der an diesem Punkt lauert. Globalisierung, Tierversuche, Umweltzerstörung, das alles frisst im Innern der 17-Jährigen und stößt sich wund an der Welt hinter der Schwelle. Dort, wo die Menschen leben, die gelernt haben, die Umstände aus Bequemlichkeit zu akzeptieren.

Wie es Amelie geht, bekommt keiner mit. Am nächsten Tag schluckt sie Zyankali. Die Regisseurin Maris Pfeiffer erzählt die Geschichte einer Familie, die durch die psychische Erkrankung ihrer Tochter lernt, dass Leben mehr bedeutet als schwarz oder weiß, dass das, was Leben ausmacht, auf dem unbekannten Terrain dazwischen liegt.

Amelie (Maria Kwiatkowsky) überlebt den Selbstmordversuch, doch ihr Zustand verschlimmert sich. Sie meint, durch ihr Denken das Handeln von Menschen bestimmen zu können, wähnt sich schuldig an einem Verkehrsunfall und verliert immer mehr den Realitätsbezug. Vor allem ihre Mutter (Gabriela Maria Schmeide) will die Dramatik nicht wahrhaben. Mit den Mitteln mütterlicher Ignoranz stemmt sie sich gegen Sachverhalte und Diagnosen und meint, elterliche Zuwendung würde das Problem schon lösen. Einzig Bernd, der Vater (Oliver Stokowski), beweist Realitätsnähe und erkennt den Behandlungsbedarf seiner Tochter.

Maris Pfeiffer ist ein Film über ein sehr gegenwärtiges Problem gelungen. Ob Depressionen, Mager-, Alkohol-, Drogensucht oder Psychosen – psychische Erkrankungen bei Jugendlichen nehmen zu, ergo sind auch immer mehr Familien betroffen. Pfeiffers Darstellung ist sehenswert, weil sie ohne Pathos auskommt, ohne kitschig oder überzogen zu sein. Realitätsnah zeigt sie die Hilflosigkeit der Eltern und das innerfamiliäre Drama, ohne den Zuschauer dabei in die Pflicht nehmen zu wollen.

Diese Qualität garantieren nicht zuletzt die drei Hauptakteure, die nie ins Groteske abgleiten, nie zu Hassfiguren werden, sondern ihren Figuren jene Würde geben, die den Zuschauer davor bewahrt, sich abzuwenden. Die Charaktere bleiben nachvollziehbar, auch wenn die ignorante Mutter Nerven kostet.

Ganz ohne Irritation kommt „Liebe Amelie“ jedoch nicht aus. So heißt es, Amelie sei manisch-depressiv. Das aber kommt einem merkwürdig vor, denn Amelie erweckt nicht den Eindruck, als sei sie von innerer Leere geschwächt oder unfähig, die einfachsten Alltagsaufgaben zu bewerkstelligen. Man erlebt sie auch nicht als manisch, als jemanden, der keine Probleme mehr im Leben sieht. Stattdessen sieht man eine zusehends entrückt junge Frau, die jedes Gefühl für Gefahr verliert und bei der sich zunehmend Allmachtsfantasien ausprägen.

Es hätte einem Projekt wie „Liebe Amelie“ gut getan, sich an einem klassischen Krankheitsmuster zu orientieren, um seinem Publikum etwas Orientierung zu bieten. So aber können nur die Psychiater unter den Zuschauern eine Diagnose stellen.