Heilige Familie, Homo-Ehe

Diskurs Ist die Familie als Lebensform passé? In Frankfurt am Main diskutierte man sie als sinnstiftenden Ort und als Terrain, auf dem Seelen Schaden nehmen können

Seit Jahrzehnten vernehmen wir Klagen über die Auflösung der Familie. Dass die Familie als Lebensform ganz im Gegenteil quicklebendig sei, lässt sich zumindest aus den diesjährigen Römerberggesprächen in Frankfurt am Main resümieren. „Heilige Familie. Homoehe, Partnerliebe, Kinderkult“ war die Veranstaltung überschrieben.

Am Ende standen einigermaßen rosige Aussichten: „Die Chancen für die Lebbarkeit von Familie waren noch nie so gut“, war sich die Publizistin Barbara Sichtermann sicher, die nicht unerwähnt ließ, dass Familie schon immer ein prekäres Unterfangen gewesen sei. Diese Lebensform sei „Garantie für gar nichts und eine Bedingung für vieles“. Überhaupt schwebte der Mythos der idealen Familie über der Veranstaltung wie ein uneingelöstes Versprechen.

Zu Beginn sprach Marietta Auer, Rechtsphilosophin und Professorin für Bürgerliches Recht, über den Wandel des Familienbegriffs und die damit einhergehenden Folgen auf die Rechtsprechung. Die bürgerliche Kleinfamilie sei keineswegs historische Konstante. Die Pluralisierung werde nach Auers Dafürhalten sogar noch weiter zunehmen. Eine These, die sich gut mit dem Vortrag der Soziologin Rosemarie Nave-Herz vereinbarte, die feststellte: „Es gibt eigentlich nicht die Familie.“ Die Definition sei vielmehr individuell. Dabei bleibe die Familiensolidarität als soziale Norm bestehen.

„Höre, was ich nicht sage“

Dass Familienmitglieder sich gegenseitig unterstützen, ob materiell oder immateriell, werde noch immer voraus­gesetzt. Wobei es heute so viele Mehrgenerationenfamilien gibt wie nie zuvor: Urgroßmütter, die mit ihren Urenkeln spielen, sind aufgrund der hohen Lebenserwartung im Rahmen des Möglichen – freilich nur, wenn Frauen nicht erst spät gebären. Derzeit tun sie das hierzulande im Durchschnitt mit 29 Jahren.

Für Nave-Herz hängt die Zunahme der Kinderlosigkeit in Deutschland nicht mit einem mangelnden Kinderwunsch zusammen, sondern mit dem herrschenden Mutterbild. Dabei steckte sie in ihrem Beitrag exakt das Spannungsfeld ab, das den 43. Römerberggesprächen als Grundlage diente: hier die Familie als sinnstiftender Ort der Selbstvergewisserung, dort die Familie als gefährliches Terrain, an dem sich die meisten Verbrechen abspielen und Seelen Schaden nehmen.

Von solcherart schadhaften Familienbeziehungen weiß die Fernsehjournalistin Tina Soliman viele bewegende Geschichten zu erzählen. Zur Einstimmung liefen Ausschnitte aus ihrer ZDF-Dokumentation, in der sie Menschen vorstellt, die den Kontakt zu Nahestehenden abgebrochen haben. Im Gespräch mit Moderator Andreas Platthaus, ebenfalls Journalist, machte sie deutlich, dass auch im Schweigen eine Botschaft liegt: „Höre, was ich nicht sage“.

Solimans Auftritt evozierte das eine oder andere intime Bekenntnis aus dem Publikum. Überhaupt sollte man festhalten, dass sich das Publikum wieder äußerst engagiert und diskursfreudig präsentierte. Schon seit 1973 gibt es die urdemokratische Gesprächsreihe, die bei freiem Eintritt die Auslotung eines Themas und Mitspracherecht gewährt. Dass beim gesellschaftlich brisanten Thema Familie weniger Publikum kam als sonst, kann getrost als Teil des Problemfeldes verstanden werden.

Pornografie und Partner

Dabei lebt diese Veranstaltung auch von den Gegensätzen, die sie offenbart: Nachdem die Psychoanalytikerin Rotraut De Clerck die Pornografisierung des öffentlichen Raums und ihre Auswirkungen auf die Partnerliebe zur Diskussion gestellt hat, nähert sich der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler in seiner scharfzüngigen „Dialektik der Aufklärung im globalen Viktorianismus“ dem nackten Kind. Seiner Vorrednerin widerspricht er: Es gebe keine Pornografie im öffentlichen Raum – die sei nämlich verboten. Den „Katalog der etablierten Perversionen“ begreift er als den Preis der Emanzipation. Das Kind indes sei heute kostbar und unsichtbar zugleich: „Das Kind ist ein rares geworden.“

Der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard, der ein Buch über neue Reproduktionstechnologien geschrieben hat, macht danach deutlich, dass sich schon sprachlich ein Wandel vollzogen hat: Was früher Retortenbaby hieß, ist heute ein Wunschkind. Dass Maria die erste Leihmutter und der Heilige Geist der erste Samenspender gewesen seien, bot sich ihm als Pointe an. Die anregend widersprüchlichen Gedankengänge auf einen erfreulichen Nenner zu bringen, gelang dann abschließend Barbara Sichtermann: „Die Norm ist heute aufseiten der Vielfalt.“Shirin Sojitrawalla