„Ein Feuer im Innern“

Zwei Jahre lebte Antje Raphael auf der Straße. Hier schreibt sie über das Damals und das Heute

Antje Raphael

35, vertritt als Mitglied der Ständigen Vertretung der ­Straßenkinder deren Interessen in der Politik.

Die 2. Deutsche Konferenz der Straßen- und Flüchtlingskinder liegt hinter mir. Kraft, Ausdauer und Leidenschaft, mit der die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich dafür einsetzen, unsere Zukunft besser zu machen, haben mich beeindruckt. Sogar Bundesjugendministerin Manuela Schwesig ist gekommen, um unsere Forderungen zu unterstützen. Toll fand ich ihr Geständnis, nicht viel über Straßenkinder gewusst und Vorurteile gehabt zu haben.

Als Kind habe ich in den 90er Jahren selber fast zwei Jahre lang auf der Straße gelebt. Die Straße ist Teil meiner Geschichte und wird es immer bleiben. Nichts hat mich mehr geprägt als dieser bedeutungsvolle Lebensabschnitt. Blicke ich zurück, taucht vor meinem Auge dieses kleine Mädchen auf, völlig verloren in der kalten Welt der Erwachsenen und doch mit einem Feuer im Innern, das nicht zu ersticken war. Meine Geschichte ist ziemlich klassisch für ein Straßenkind: geboren in eine Familie, die dem Untergang geweiht war, mit Eltern, die selbst eine unaufgearbeitete traumatische Kindheit hatten, in der sexueller Missbrauch und Misshandlung vorkamen. Als ich sieben war, zog mein Vater aus, meine Mutter ging nun Vollzeit arbeiten, Zeit für mich fand sie kaum noch. Auf der Suche nach Aufmerksamkeit wurde ich zu einem „schwierigen Kind“. Schon als Neunjährige hatte ich Depressionen und Suizidgedanken. Oft konnte ich meinen Körper nicht mehr fühlen, hatte keinen Zugang mehr zu mir selbst. Mit Selbstverletzungen versuchte ich, mich wieder lebendig zu fühlen. Meine Mutter heiratete schließlich einen Mann, mit dem ich überhaupt nicht klarkam. Dann verstarb mein leiblicher Vater, den Verlust konnte ich nie verkraften. Ich begann zu rauchen, Alkohol zu trinken, mich herumzutreiben, wodurch die Distanz zu meiner Mutter unüberwindbar wurde. Immer öfter schlug sie in ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit zu, wenn ich mal zu Hause war, wurde nur noch gebrüllt.

Ich wandte ich mich an das Jugendamt mit der Bitte, mich aus der Familie herauszunehmen. Dort schickte man mich wieder nach Hause: Die Probleme wären nicht schwerwiegend genug für eine Fremdunterbringung. So blieb mir die Flucht auf die Straße. Dort suchte ich Liebe, Halt, Freundschaft und Geborgenheit. Ich fand Kälte, Gleichgültigkeit, sexuelle Ausbeutung und Drogen­elend. Mit gerade mal 13 Jahren lebte ich inmitten von Obdachlosen, Fixern, Strichern und Straßenkindern. Schnell geriet ich in meiner Naivität und Verzweiflung an Heroin. Hilfe vom Jugendamt erhielt ich nicht, im Gegenteil: Als ich mir im Winter eine billige Absteige suchte, in der auch andere Obdachlose lebten, musste ich nach zwei Tagen im Warmen wieder zurück auf die Straße, weil das dem Jugendamt zu teuer war. Ein Platz in einem Heim hätte wesentlich mehr gekostet. Diesen ersten Winter auf der Straße werde ich niemals vergessen! Es war der kälteste seit Jahrzehnten und rings um mich herum erfroren viele Menschen, die ich kannte. Solidarität untereinander gab es nicht, jeder gute Schlafplatz wurde verteidigt bis aufs Blut. Als eine der Jüngsten konnte ich mich nicht durchsetzen. Immer wieder wurde mir mein Schlafsack geklaut. Ich musste die Nächte durchmachen, um nicht zu erfrieren, ständig vertrieben von Polizei, Ordnungsamt und privaten Wachschutzfirmen. Länger als eine Viertelstunde konnte ich mich nirgendwo aufhalten. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie man gegenüber einem Kind so gleichgültig sein kann!

„Die Straße ist Teil meiner Geschichte“

Antje Raphael, ehemaliges Straßenkind

Ich bin nun erwachsen, Mama dreier fantastischer Kinder. Ich habe mir meinen Platz in der Gesellschaft mühevoll zurückerkämpft, habe meinen Schulabschluss nachgeholt, einen Beruf erlernt, den Führerschein gemacht, und arbeite als Betreuerin für Demenzerkrankte in einem Altenheim. Der Weg war hart, und ich bin sehr stolz auf das Erreichte. Die Mitarbeit in der Ständigen Vertretung ist mir eine Herzensangelegenheit, denn hier bin ich wichtig, so, wie ich bin. Meine Erfahrungen gelten zum ersten Mal in meinem Leben nicht als Manko, sondern als Erfahrungsschatz, der anderen helfen kann.