Berliner Szenen
: Typologie des Niesens

Thermometer spinnt

Unbezwingbar. Von unten nach oben. Und darüber hinaus

Ich bin krank. Ich wusste es in dem Moment, als ich morgens aus dem Bett stieg. Krank! Flüssigkeiten fließen aus meiner Nase. Ich glaube, ich habe Fieber. „Ich bin krank!“, jaule ich meinem Freund durchs Telefon ins Ohr. Meine Stimme klingt wie ein Reibeisen. „Mhm, sexy“, murmelt Paul. „Du nimmst mich nicht ernst!“, heule ich. Ich habe mir ein Fieberthermometer unter den Arm geklemmt. Ich wette, ich habe mindestens 39,2°C. Paul wird seine Arbeit liegen lassen und im Laufschritt kommen, um mich zu pflegen. „Ich hab Fieber!“, hauche ich ins Telefon. Als hätte es einer Bekräftigung bedurft, muss ich dreimal heftig niesen. Bekanntlich gibt es verschiedene Arten von Niesern: Die ganz kleinen niedlichen; solche, wie meine Freundin Frieda macht. Wie Katzenbabys, denen man ins Gesicht pustet. Nieser, die nicht mal ein ganzes Hatschi zustande bringen. Nur ein niedliches: „Tsi!“

Dann gibt es erwachsene Nieser; Menschen, die sich beherrschen können: Ein kontrolliertes „Hatschi!“ in gedämpfter Lautstärke, das nie in die Hand geht, sondern immer ins Taschentuch. Paul niest so. Beneidenswert. Und dann gibt es mein Niesen. Laut. Unbezwingbar. Von ganz unten nach ganz oben. Und darüber hinaus. Ungefähr so wie das Röhren des Löwen im Vorspann der Metro-Goldwyn-Mayer-Filmproduktion, nur entfesselter. Und nasser.

„Spätzchen?“, sagt Paul. – „Ja?“, näsele ich erschöpft. – „Dir geht’s nicht gut, ne?“ – „Nein! Es geht mir nicht gut!“ Das Thermometer piept. Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Ich blinzele. 37.2°C. Das ist der blanke Hohn! „Wie viel?“, fragt Paul. „Äääh …Weiß ich nicht“, murmele ich, „das Thermometer spinnt.“ Ich kann hören, wie er grinst. „Spätzchen?“, sagt Paul, „weißt du vielleicht, ganz vielleicht stirbst du ja auch nicht an der Erkältung!“ Niemand nimmt mich ernst. Niemand!!! Lea Streisand