Eine stieg aus dem Storchennest

KINDERTHEATER Mit runderneuertem Ensemble und einer Uraufführung startet das Moks in die Spielzeit: „Wunderbrut“ erweist sich trotz tollem Setting als Reinfall

Meret Mundwiler schaut verbotenerweise durchs Teleskop und erblickt Krieg, Tod und Verfolgung  Foto: Landsberg/Theater Bremen

von Benno Schirrmeister

Ein tolles Bild ist das: Etwas links der Bühnenmitte schwebt, auf einem fahrbaren Gerüst in gut zwei Metern Höhe, ein gigantisches Nest. Vorne rechts, im Halbdunkel, hat in einem rot gepolsterten Lehnstuhl ein junger Mann Platz genommen, der an einem ellenlangen roten Schlauch strickt und die Andeutung eines Schnabels ins Gesicht geschminkt bekommen hat: Benjamin Nowitzky spielt Adebar, den Storchen.

Den Hintergrund der Moks-Bühne hat Bettina Weller in ein halbrundes, funkelndes Milchstraßenpanorama verwandelt, das Stück und Handlung von der Erde löst und schweben lässt. Und dann, plötzlich, taucht aus dem Nest ein Kopf auf, mit fleischfarbener Badekappe bekleidet, die Augen weit aufgerissen, und sofort beginnt Christoph Vetter an seinem Daumen zu nuckeln. Dann entdeckt er Zehen. Auch die schiebt er sich in den Mund, wobei sich kurz darauf zeigt, und das spätestens wird ein erster Lacher sein von Theo Fransz „Wunderbrut“: Die Zehen, die er lutscht, das sind gar nicht seine.

Sie gehören den zwei anderen badebekappten Nestbewohnerinnen, Lina Hoppe und, immerhin ein bekanntes Gesicht, Meret Mundwiler. Klar: Die beiden, sie werden später als Prima und Secunda vorgestellt, gucken jetzt empört ob der Beschlagnahme ihrer Extremitäten. So beginnt „Wunderbrut“ von Theo Fransz, und so hat die Spielzeit im Moks mit einem fast komplett ausgetauschten Ensemble begonnen.

„Wunderbrut“, in dem sich drei Ungeborene, Prima, Secunda und Tertius, betreut von Adebar, auf ihre Geburt vorbereiten, ist bereits das sechste Stück des niederländischen Dramatikers, das in Bremen uraufgeführt wird, jeweils in der Regie des Autors. Das tut der Bildwelt seiner Stücke gut. Es verleiht ihnen aber auch in zunehmendem Maße den Charakter von work in progress-Produktionen. Und der hat diesmal leider überhand genommen: innere Motivationsprobleme, eine verworrene Exposition und ein überstürzter Schluss erwecken den Eindruck, „Wunderbrut“ sei auch bei der Premiere nicht so recht fertig gewesen. Und das als Form-Inhalt-Kongruenz zu loben, wäre verfehlt.

Die Zehen, an denen Christoph Vetter lutscht, sind gar nicht seine. Sie gehören den zwei anderen badebekappten Nestbewohnerinnen, Lina Hoppe und Meret Mundwiler

Das belegen markant auch die Reaktionen: Unmittelbar aufs verständnisvolle Auflachen der Erwachsenen folgt in der Premiere zuverlässig wie ein Echo murmelndes Erklären. Schließlich wollen Papa und Mama ja, dass die Kinder den Witz und die Schmunzelanspielung kapieren. Dieses Bedürfnis erfüllt das Stück aber nicht oder zu selten: So erweist sich schon die Grundkonstellation als schwer nachvollziehbar. Dass die Akteure Kinder im pränatalen oder sogar präfötalen Status sind, versteht nur, wer den Volksglauben kennt, nach dem der Storch die Babies bringt. Diese Legende ist aber längst verschüttet. Er existiert nur als philologisches, erworbenes, nicht tradiertes Wissen: Und während andere Anspielungen und Übernahmen – wie der Mythos vom Vergessen des pränatalen Lebens, der aus Pamela Travers‘ „Mary Poppins“ stammt – nicht erkannt und decodiert werden müssen, ist der Storchglauben Voraussetzung dieses Dramas: Es muss ihn herstellen, um von ihm ausgehen zu können, und zwar flott.

Wär’ ja auch leicht, das ist elementares Dramatikerhandwerk, dazu braucht‘s einen Satz, eine Replik, und der Rahmen steht. Fransz aber reicht ihn erst im Verlauf des Stücks in Häppchen nach, während er die großen philosophischen Potenziale des Stoffs im Laufe der Stück­entwicklung aus den Augen verloren hat: „Gibt es denn ein Leben nach dem Leben?“, hatte der Ankündigungstext noch das Fragen der Ungeborenen nicht ohne Witz ausgesponnen, und daran erinnert, dass von draußen niemand bislang zurückgekehrt sei. Aber derartige existenzielle Fragen wirft das Stück nicht auf: Und neben schönen Bildern und einer wirklich gelungenen Geburtstagsfeier, während der Nowitzky großes komödiantisches Talent offenbart, gibt es auch wirklich peinliche Szenen, oder vor allem diese eine, die aber dann doch alles überlagert: In der Nacht, als Adebar schläft, kraxelt die aufmüpfige Secunda aus dem Bett, und nutzt, trotz Verbot, die Gelegenheit, durch das Fernrohr des Storchen auf die Erde hinabzuschauen.

Was sie erblickt, sind Elend, Krieg und Verfolgung, sie erschrickt, will dorthin nicht geboren werden und zieht sich – Mundwiler schmollt ganz vorzüglich – in einen Winkel zurück. So viel Nein darf offenbar nicht sein: Also wird sie zu einem zweiten Blick durchs Teleskop genötigt, und muss anerkennen, dass es auch etwas anderes gebe: Die Dialoge dieser Szene bleiben hölzern und das spricht dafür, dass der Autor beim Schreiben mindestens gespürt haben muss: Er ist gerade im Begriff seine Wunderbrut mit einer wuchtigen Moralkeule niederzumachen. Erbarmungslos.

Nächste Vorstellungen: 3.& 17. 10., 16 Uhr, Moks