Juck Erdnüsse oder keine Erdnüsse? Viel putzen oder besser nicht? Die Wissenschaft streitet, woher die Allergien kommen. Wir stellen fünf Hypothesen vor
: Woher kommen die Allergien?

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Hypothese 1
: Erdnüsse in den Brei

Früher hieß es in der Elternberatung: Allergene im ersten, manche sogar noch im zweiten Lebensjahr lieber meiden! Doch diese Tipps sind ohne entsprechende Studien ausgesprochen worden. Jetzt zeigt sich immer eindrücklicher, dass sie falsch waren. Die Allergieleitlinien zur Vorbeugung wurden im Jahr 2008 erstmals so umgeschrieben, dass nun keine potenziell allergenen Lebensmittel wie Milch, Fisch oder Weizen mehr gemieden werden sollen – dies gilt auch für Kinder von Allergikern. Stattdessen wird nun eine vielfältige Kost empfohlen. Auch die stillende oder werdende Mutter soll sich nicht einschränken.

Zudem wird dem Stillen schon lange ein schützender Effekt zugeschrieben. Idealerweise sollten Babys vier Monate Muttermilch bekommen. Ab dem fünften Lebensmonat können dann erste Breis dazukommen, etwa Gemüse-, Obst- und Getreide. Es wird auch nicht mehr empfohlen, nach sechs Monaten abzustillen. Wer nicht stillt, sollte Kindern mit einer genetischen Belastung sogenannte hypoallergene Milch füttern. Kinder gesunder Eltern können mit normaler Pre-Milch gefüttert werden, die der Muttermilch am nächsten kommt. Ob sich Probiotika in der Milch auf das Allergierisiko auswirken, ist nicht belegt.

„Gerade im ersten Jahr scheinen Weichen für spätere Allergien gelegt zu werden“ sagt der Allergologe Jörg Kleine-Tebbe. So hat eine Aufsehen erregende Studie kürzlich gezeigt, dass Neurodermitis-Kinder mit Hühnerei- oder Kuhmilchallergie, die regelmäßig einige Gramm Erdnüsse in der Beikost erhielten, im Alter von fünf Jahren seltener allergisch reagierten als Kinder nach strenger Vermeidung.

„Wir sind zugegebenermaßen verunsichert“, sagt Kleine-Tebbe. Vor allem in angelsächsischen Ländern, wo Erdnussallergien häufiger vorkommen, kann man nun nicht einfach Erdnussbutter in der Beikost empfehlen. „Das würde die Erdnussallergiker unter den Kleinen in echte Gefahr bringen“, so der Allergologe. Ganze Erdnüsse sollten Babys wegen Erstickungsgefahr gar nicht bekommen.

Hypothese 2
: Ab auf den Bauernhof

Bauernkinder erkranken fünfmal seltener an Asthma und Allergien als Kinder, deren Eltern keine Landwirtschaft haben. Unter der Bezeichnung „Bauernhof­effekt“ wird dieses Phänomen nun seit rund 15 Jahren erforscht. Man nimmt heute an, dass der Kuhstall und auch der Rohmilchkonsum wie eine Impfung wirken.

Dass Heu und Stroh Schutzfaktoren darstellen, liegt vermutlich an einem Gemisch aus pflanzlichen und mikrobiellen Substanzen, die sich in einem Stall tummeln. Die Zellbestandteile aktivieren die angeborene Immunität der Kinder. Der zweite Schutzfaktor ist die Rohmilch. Normalerweise wird Milch, die für den Verkauf bestimmt ist, in der Molkerei erhitzt, damit Keime abgetötet werden. Bei der Hälfte der Bauern wird dieses Risiko jedoch offenbar als gering eingeschätzt. Rohmilch, lauwarm aus dem Euter, kommt bei vielen Milchbauern auf den Tisch. Alle trinken dann diese Milch, auch die schwangere Landwirtin oder das Kleinkind. Milch im Supermarkt wird dagegen pasteurisiert, also erhitzt. Das setzt den Eiweißen in der Milch zu. Vor allem diese Molkenproteine beeinflussen das Asthma- und Allergierisiko. „Auch die Homogenisierung könnte das Problem sein, weil Fette hierbei stark verändert werden“, glaubt die Münchner Allergologin Erika von Mutius.

Sollten Stadtkinder jetzt also alle Rohmilch trinken, um keine Allergien zu bekommen? Davon rät die Wissenschaftlerin ausdrücklich ab, denn Rohmilch kann auch Krankheiten wie Ehec übertragen. Hartkäse aus Rohmilch gilt dagegen als ungefährlich. Und Milch von Demeter-Höfen ist zumindest nicht homogenisiert.

Hypothese 3
: Tief durchatmen

Thomas A. E. Platts-Mills, Allergologe an der University of Virginia, zieht die Hygienehypothese in einem aktuellen Artikel in Zweifel. Schließlich seien die Verbesserungen der hygienischen Bedingungen in den Industrieländern bereits in den 1920er Jahren abgeschlossen gewesen. Doch der Anstieg bei Allergien kam erst später. Er vermutet, dass Kinder seit den 1950er Jahren mehr Zeit in Räumen verbracht und deshalb mehr Allergien bekommen haben. In Zimmern gibt es mehr Hausstaub, Kinder bewegen sich weniger, und vor dem Fernseher atmen sie anders, sie „seufzen“ weniger. In Studien hat sich tatsächlich gezeigt, dass tiefes Ein- und Ausatmen die Lungen resistent gegen Asthma macht.

Hypothese 4
: Nicht streiten

In der 2014 aktualisierten Leitlinie zur Allergie­präven­tion wurde erstmals auch der Aspekt „psychosoziale Faktoren“ aufgenommen. Zahlreiche Studien hatten zuvor gezeigt, dass belastende Ereignisse, wie zum Beispiel die Trennung der Eltern oder der Tod eines Angehörigen, das Allergierisiko von Kleinkindern erhöht. Auch wenn die Mutter während der Schwangerschaft Traumatisches erlebt, kann sich das im Immunsystem des Kindes eingraben. Allerdings ist umstritten, ob auch weniger gravierende Stresssituationen einen Einfluss auf die Entstehung von Allergien haben können.

Vor allem bei Neurodermitis, Nesselsucht und ­Asth­ma scheint die Psyche eine Rolle zu spielen. So können psychische Belastungen bei Neurodermitikern die gefürchteten Schübe verursachen. Und auch für Nesselsucht und Asthma ist bekannt, dass sich Symp­tome durch Streit oder depressive Verstimmungen verschlimmern können. Eine „Allergiepersönlichkeit“ gibt es jedoch nicht.

Hypothese 5
: Ab in den Dreck

Ende der 1980er Jahre formulierte der britische Arzt David Strachan die These: „A little dirt does not hurt.“ Dass Dreck gesund sein könnte, liegt daran, dass sich darin Keime und Parasiten tummeln. Diese könnten mit der Darm- und Hautflora des Menschen interagieren und so das Immunsystem beeinflussen. Erst im Juli 2015 hat ein internationales Forscherteam gezeigt, dass der richtige Mikrobenmix im Darm die Allergie auslösenden Th2-Zellen blockiert.

Doch die Menschen in Industrieländern putzen, was das Zeug hält. Auch das Essen muss klinisch sauber sein. Fällt der Schnuller auf den Boden, wandert er in den Sterilisator, statt ihn wie früher abzulecken. Antibiotika sind schnell verschrieben. Babys kommen immer häufiger per Skalpell auf die Welt. Das verhindert, dass sie sich im Geburtskanal mit gesunden Bakterien ausrüsten. Besonders Kinder aus der Mittel- und Oberschicht wachsen in einer an Mikroben armen Umwelt auf und sind häufiger von Allergien betroffen.

Auch wenn vorindustrielle Verhältnisse schützen, ist unklar, was man mit dieser Erkenntnis halten soll. „Wir wollen ja nicht das Rad zurückdrehen“, sagt der Allergologe Jörg Kleine-Tebbe. „Immerhin haben wir gefährliche Infektionskrankheiten durch Hy­giene ausgerottet.“ Stadtkinder im Dreck spielen zu lassen, hält er darum für keine Lösung.

Was für Allergene aus dem Essen gilt, könnte übrigens auch andere Faktoren der kindlichen Lebenswelt im ersten Lebensjahr betreffen. Gewisse Staubmengen in der Wohnung könnten immunisieren. So sind Kinder, die auf Tierfellen gebettet schlafen, weniger von Allergien betroffen. Auch Haustieren, die Keime und Haare durch die Gegend schleudern, werden heute positive Effekte auf das Allergie­risiko zugesprochen.

Als schädlich gilt in jedem Fall Schimmel in der Wohnung. Auch das Renovieren vor der Geburt eines Kindes ist problematisch, da aus Farben und Möbeln chemische Substanzen ausdünsten. Zudem sollten Eltern mit dem Rauchen aufhören – zumindest in der eigenen Wohnung.

Dass Allergene auch über die Haut aufgenommen werden, führt der Allergologe Thomas A. E. Platt-Mills auf eine veränderte Hautdurchlässigkeit zurück. „Mit sinkender Kinderzahl gibt es eine Tendenz, Babys täglich zu baden, was vor 25 oder 50 Jahren noch nicht der Fall war“, schreibt er.