Vom Unwort „Fehlanreiz“

Menschliche Mindeststandards werden als Luxus definiert. Auch die Grünen machen mit

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Ulrich Schulte

So ein Wort können sich wirklich nur Bürokraten ausdenken. Kalt, technisch und unpersönlich klingt es, aber irgendwie auch präzise und scheinbar wahr. Dieses Wort war der Kanzlerin, dem Grünen Winfried Kretschmann und den anderen Ministerpräsidenten bei ihrem großen Asylkompromiss sehr wichtig, es fällt gleich mehrfach in ihrem Beschluss. Fehlanreize.

Fehlanreize also gelte es für Asylbewerber tunlichst zu vermeiden, was übersetzt bedeutet: Wir müssen Deutschland einfach unfreundlicher und härter machen, dann kommen weniger Hilfesuchende zu uns. Dass die CSU und Merkels CDU so denken, ist keine Überraschung. Aber auch die Sozialdemokraten und die Grünen stimmen dieser Analyse zu, auch wenn sie das nicht ganz so laut sagen. Das ist der große Konsens der deutschen Politik, der sich Donnerstagnacht offenbarte.

Jener ist gleich mehrfach perfide. Zunächst arbeiten Merkel und die Länderchefs mit einer handfesten Unterstellung. Sie lautet: Viele Flüchtlinge suchen doch gar nicht Schutz, sie wollen etwas bei uns abgreifen – unseren Reichtum, unser Geld, unsere Sozialleistungen. Das klingt einleuchtend, ist aber falsch. Es stimmt, viele Menschen kommen nach Europa, weil sie zu Hause keine Perspektive haben. Aber die Fluchtgründe sind sehr komplex, oft gehen Armut und Diskriminierung Hand in Hand. Ebenso erzeugt echte wirtschaftliche Not einen solchen Leidensdruck, dass die Flucht mehr als legitim ist.

Wer sich also abfällig über sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge äußert – noch so ein fürchterlicher Begriff -, der sollte sich vor Augen führen, wie tief empfunden Not sein muss, wenn Menschen freiwillig ihre Familie, ihre Freunde und ihre Heimat zurücklassen, um auf eine lebensgefährliche Reise mit unsicherem Ausgang zu gehen.

Armutsflüchtlinge mögen nach deutschem Recht keinen Asylgrund haben. Nur wer in seiner Heimat politisch verfolgt wurde, darf dauerhaft hier bleiben, das ist bekannt. Aber mindert das den Mut der Armutsflüchtlinge, die den Aufbruch wagten? Oder ihr Recht, ihr Glück anderswo zu suchen? Diese Mutigen sollte ein Staat mit Respekt behandeln, nicht mit Gleichgültigkeit oder gar Verachtung. Merkels ganz große Koalition hat sich nicht nur dafür entschieden, Armutsflüchtlinge zu entmutigen. Nein, jetzt werden ein paar Schikanen in Gesetzestexte gegossen, die das bisher geltende Asylrecht drastisch verschärfen.

Der Staat wird Asylbewerber bis zu sechs Monate in völlig überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen sperren, nicht nur drei wie bisher. Dies wird das Chaos vor Ort nur vergrößern, da sind sich viele Experten einig. Und für die Menschen, die es trifft, ist das eine Zumutung, das weiß jeder, der eine Erstaufnahmeeinrichtung von innen gesehen hat.

Nehmen wir den ehemaligen Praktiker-Baumarkt in der sächsischen Kleinstadt Heidenau, in dem jetzt hunderte Geflüchtete aus Syrien, Nigeria oder aus Balkanstaaten leben. Die Kanzlerin hatte diese Notunterkunft im August nach einigem Zögern doch besucht, um die rechten Gewaltexzesse zu verurteilen. Wo früher hohe Regale mit Schrauben oder Werkzeug standen, ist jetzt eine riesige Halle die Heimat von jungen Männern, aber auch von Familien mit Kleinkindern und Babys. Feldbetten stehen dicht an dicht, die Luft ist muffig und riecht streng, es gibt keine Privatsphäre.

Sechs Monate hier mit einer Familie zu verbringen, das muss die Hölle sein. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sagt auf Dauer „menschenrechtswidrige Zustände“ in den Heimen voraus. Kein Problem, die Asylverfahren sollen ja in Zukunft in wenigen Wochen abgewickelt werden, entgegnen nun die Bürokraten. Aber ihr Argument taugt nicht, denn die Prognose ist völlig unrealistisch.

Ein anderer Fehlanreiz, der Merkel und die Ministerpräsidenten offenbar fürchterlich ärgerte, ist das kleine Taschengeld, mit dem sich Flüchtlinge bisher Prepaidkarten fürs Smartphone, die Busfahrt in die Innenstadt oder ein Eis kaufen konnten. Dieses Geld soll gestrichen werden, stattdessen gewährt der Staat nur noch Sachleistungen oder Gutscheine. Nun ist es schon recht widerwärtig, 143 Euro im Monat in einem reichen Land als „Fehlanreiz“ zu definieren, aber nehmen wir die Logik der Befürworter einmal ernst.

Jahaaa, sagen sie, in Deutschland sei das vielleicht wenig Geld, aber in Afrika oder in den Westbalkanstaaten verheiße eine solche Summe doch den puren Luxus. Kein Wunder, sagen sie, dass Deutschland diesen Leuten als das gelobte Land erscheine. Genau dieser Vergleich aber ist unangemessen, widerlich, ja: gefährlich. Asylbewerber kaufen mit dem Geld schließlich in deutschen Supermärkten zu deutschen Preisen ein. Vor allem aber gilt: Armut in Industriestaaten hat – glücklicherweise – nichts mit Armut anderswo auf der Welt zu tun, dies miteinander in Relation zu setzen, verbietet sich.

Überhaupt, wohin führt diese Argumentation? Würde man ernsthaft die Zustände in manchen West­bal­kan­staaten zum Maßstab für hiesige Flüchtlingsversorgung machen, um alle Anreize auszuschließen, dann müsste man Roma in der brandenburgischen Pampa kasernieren, ohne ärztliche Versorgung, ohne Zugang zu Bildung. Und die Polizei schaute bei den Neonazi-Besuchen konsequent weg.

Ulrich Schulte

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leitet das Parlamentsbüro der taz. Schulte, 41 Jahre, schreibt über Bundespolitik, besonders oft über die SPD und die Grünen. Er wundert sich im Moment darüber, dass Merkel bei dem Flüchtlingsthema plötzlich von Linken bejubelt wird – und 20 Jahre CDU-Einwanderungspolitik wie vergessen sind.

Aber auch für die deutschen Länder und Kommunen ist die Taschengeldstreichung keine Erleichterung, im Gegenteil. Dieser bürokratische Unfug wird die gestressten Helfer vor Ort vollends in den Wahnsinn treiben. Bekommt jeder einen Zigarettengutschein, auch die Nichtraucher? Muss jeder ins Kino, auch die, die nicht wollen? Hilft eigentlich ein Gutscheinschwarzmarkt in Unterkünften? Ist das alles nicht etwas irre? Das sind so Fragen, die die Entscheider im Kanzleramt lieber nicht beantworten wollten.

Eine Idee, einen sogenannten Fehlanreiz abzuschaffen, ist aber besonders abstoßend. Merkel, Kretschmann und die anderen Länderchefs wollen abgelehnten Asylbewerbern, die nicht freiwillig ausreisen, jede Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz streichen – bis auf das „unabdingbar Notwendige“. Will der Staat in Zukunft also verzweifelten Menschen, die sich ihm nicht unterordnen, das Existenzminimum kürzen? Das wäre in der Tat eine interessante Rechtsauslegung. Das Verfassungsgericht sah das Asylbewerberleistungsgesetz in der Vergangenheit durchaus kritisch, weil es den Niedrigststandard, der für Deutsche gilt, noch einmal absenkt.

Nun spielt Merkels Koalition der Willigen mit dem Gedanken, sie für diejenigen, die sich nicht unterordnen, noch einmal zu senken. Vermutlich ist den Verhandlern selbst etwas unwohl dabei, die Klausel ist bewusst schwammig gehalten. Was für ein wegweisender Plan, ließe er sich doch trefflich auf andere Bereiche ausweiten. Der Gesetzgeber könnte sich zum Beispiel überlegen, Hartz-IV-Bezieher aus ihrer Wohnung zu werfen, wenn sie einen ungeliebten Job partout nicht annehmen wollen. Motto: Wer nicht hören will, wird eben obdachlos, wieder ein Fehlanreiz weniger. Eine solche Logik aber wäre fatal. Die Stärke eines Rechtsstaats zeigt sich gerade in seinem Umgang mit Schwachen. Und ja, die Menschenwürde gilt auch für diejenigen, die Gesetze nicht achten. Merkel, Kretschmann und die anderen Ministerpräsidenten haben nicht den Mut, diese Prinzipien in einer schwierigen und aufgeheizten Situation hochzuhalten, weil sie sie für nicht mehrheitsfähig halten. Sie loben sich für einen Kompromiss, der kein Lob verdient. Von Merkels Union und der staatstragend willfährigen SPD hätte man fast nichts anderes mehr erwartet.

Aber wie schnell die angeblich rebellischen Grünen in einer Kernfrage zu hasenherzigen Duckmäusern mutieren, ist verblüffend. Als Winfried Kretschmann nach der Bundestagswahl 2013 mit Jürgen Trittin abrechnete, rief er, es dürfe bei der gesellschaftspolitischen Verortung der Grünen nicht mehr um Kampf gehen. Stattdessen müsse die Parole Versöhnung lauten. Bei dem Flüchtlingsthema hat Kretschmann vorgemacht, was das heißt: Wenn es dem Bauchgefühl der Mehrheit entspricht, müssen Minderheiten eben widersinnige Schikanen hinnehmen. Es geht um die Landtagswahlen im Frühjahr. Und vor Wahlen stellen sich Regierungspolitiker wie Kretschmann oder Angela Merkel noch weniger gern in den Wind als sonst. Sie möchten nicht, dass die Konkurrenz ein Thema hat, eine Kontroverse. Darunter leiden nicht nur die Geflohenen, es lähmt die demokratische Diskussion. Es ist ein echter – Fehlanreiz.