Wieder scheitern, besser scheitern

Romantiker sind Realisten, Popliteratur lebt von genauer Beobachtung: Die Berlin-Kultur-Seiten waren Anfang der 90er-Jahre ein Ort für radikale Schreibweisen. Alltagstexte über Möbelhäuser wurden zum Vorbild für die „Berliner Seiten“ der „FAZ“. Und heute? Ein melancholischer Nachtrag

von DETLEF KUHLBRODT

Doch die Lektüre der Zeitung ist mir widerwärtig und zudem keineswegs unbedenklich (Proust, Die Entflohene)

Beim Schreiben ging es um Direktheit und Wahrheit, darum, aus den abgesicherten Bezirken des So tun-als-ob rauszukommen, darum, das eigene falsche Denken und Fühlen zu bekämpfen; Fakegefühle zu erkennen und zu vermeiden. Das unglückliche Bewusstsein musste durch die Verzweiflung hindurch, um (wie beim Computerspiel) auf die nächste Stufe zu kommen, so der damals gängige, an Hegel orientierte Masochismus.

Es ging nicht darum, die Welt zu verändern, sondern den Text der Welt richtig zu lesen. Um richtig lesen zu lernen, lasen wir als Studenten der „Generation Merve“ vor allem Foucault, Deleuze, Freud, Benjamin, Derrida, Heidegger, Proust, Bataille, Nietzsche, die Spex, die taz und manchmal die angenehm zynische MSZ (Marxistische Studentenzeitung). Wir waren antihedonistische Existenzialisten, zum Teil sehr romantisch und verstanden uns als melancholischer Teil der Reste der Linken. Man hatte immer den Teil der Linken gut gefunden, der verloren hatte, die Anarchisten in Spanien usw. Auf der Seite des Verlusts zu sein war eine Art von Zuhause.

Von der Position der Gesamtzeitung taz her gesehen war die autonome „Berlin-Kultur“, die es bis 1991 gab, Verlust und Verschwendung, also Luxus. Übersetzt ins System des Überschreitungstheoretikers Georges Bataille war Westberlin vor 89 der verfemte Teil von Westdeutschland, Kreuzberg war der verfemte Teil von Berlin; die taz war der verfemte Teil der westdeutschen Zeitungslandschaft und innerhalb der taz war die Berlin-Kultur eben der verfemte Teil gewesen.

Mitte bis Ende der 80er-Jahre lasen wir wie die Idioten, allerdings so gut wie gar keine zeitgenössische Literatur. Von den Dichtern sprach uns nur Rainald Goetz direkt an. Wir hatten uns 87 im „Risiko“ kennen gelernt und später immer wieder miteinander zu tun gehabt. Wahrscheinlich wurde die Berlin-Kultur am stärksten beeinflusst, bzw. geprägt von Eckhard Henscheid, Rainald Goetz, Helmut Höge und Gabriele Goettle, von Sabine Vogel, Gabriele Riedle, Thomas Kapielski, Wiglaf Droste, Andreas Doehler, Claudia Wahjudi und KBM, aber auch von Andreas Becker, Christel Dormagen, Tommi Winkler, Thorsten Alisch und dem Studienfreund Harald Fricke, der mir später oft vorhielt, dass ich ihn in die „Berlin-Kultur geschleppt“ hatte.

Die Berlin-Kultur war die offenste Kulturredaktion in der Stadt. Wer „Journalist“ werden wollte, also im So-tun-als-ob ein Auskommen suchte, ging zur „Journalistenschule“ und dann zum Tagesspiegel; wer die blöden Verhältnisse nicht nur reproduzieren wollte, ging zur Berlin-Kultur. Ab Mitte der Achtziger hatte dort – besonders von Höge propagiert – eine existenziell-ironische, letztlich auf Hegel bzw. Kierkegaard zurückgehende Philosophie des Scheiterns Konjunktur, mit der wohl auch die so genannte Neue, also Post-68er-, also taz-Linke, ihr eigenes Scheitern verarbeitete.

Diese Philosophie changierte zwischen den Pamphleten der Donaldisten, dem „Weg nach unten“ von Franz Jung und diesem schönen Beckett-Gedicht: „Alles seit je./ Nie was anderes./ Immer versucht./ Immer gescheitert./ Einerlei./ Wieder versuchen./ Wieder scheitern./ Besser scheitern.“ Man setzte aufs Lyotard’sches „Patchwork der Minderheiten“, war überzeugt, dass Außenseiter- und Minderheitenerfahrungen mehr über Gesellschaft aussagen als der herrschende Diskurs. Unsere Vorstellungen waren prozessual, also gleitend, orts- und situationsbedingt.

Meinen ersten Text für die Berlin-Kultur schrieb ich 1988 über Leonard Cohen. Es ging darum, den „Beautiful Loser“ gegen das widerwärtig wohlige Klischee des Greatest-Hits-Sängers zu verteidigen. Damals schrieb ich noch mit Schreibmaschine. Später fand ich einen Autoren toll, der seine Texte handgeschrieben in die taz brachte. Wenig später brachte man dann immer kleine Disketten mit. Es war gut, dass es noch kein Internet gab, dass man also für jeden Text in die taz fahren musste. Weil man so direkt mit den RedakteurInnen, sofort und nicht am Telefon die Texte durchsprach.

In der taz in der Weddinger Wattstraße saßen die damaligen großartigen B-Kultur-RedakteurInnen Dr. Sabine Vogel, Qpferdach und Gabriele Riedle in einem kleinen Zimmer. Man gab erstmal seinen Text ab und wartete dann wie beim Zahnarzt. Dann wurde man hineingebeten und schön redigiert. Manchmal musste man mit dem Text wieder nach Hause fahren, um ihn noch mal zu schreiben. Manche Texte schrieb man vier- oder fünfmal. Die Texte waren das Produkt einer kollektiven Arbeit, auch wenn kaum was geändert wurde. Sie richteten sich an jemand Bestimmten, die gute RedakteurIn, der man vertraute, die Kollegen, die man schätzte, und den Teil des Leserumfelds, den man meinte zu kennen. Freundschaften und Arbeitsbeziehungen zwischen den AutorInnen der B-Kulturseiten gingen ineinander über. Auch die RedakteurInnen der Berlin-Kultur redigierten einander.

Am Vormittag schien, glaube ich, die Sonne. An einem Gang lagen die Redaktionsbüros. An Wänden hingen teils wütende Schreiben, die die tazler aneinander richteten, um falsche Ansichten zu brandmarken. Dies kam mir etwas seltsam vor. Wozu schrieben die Leute sich gegenseitig böse Briefe, wenn sie doch im gleichen Betrieb arbeiteten? Weil das in der Zeit der erbittert geführten Flügelkämpfe in der taz spielte!

Als Berlin-Kultur-Autor war man der Linken zugeteilt, die irgendwie auch poststrukturalistisch und mit der Technik verbunden war. Heiner Müller war auf unserer Seite. Michael Rutschky auch, der damals die Zeitschrift Alltag herausgab, mit der die Berlin-Kultur befreundet war, wie auch mit Jutta Stössingers „Moderne Zeiten“-Seite in der FR, dem Freitag und der Wochenpost. Bis 1992 existierten zwei, wenn man den recht umfangreichen Berlin-Veranstaltungsteil „La Vie“ mitzählt sogar drei Kulturredaktionen, deren Aufgabenbereiche nicht genau voneinander abgetrennt waren. Das war eine der Mütter der Konflikte: Die überregionale „Großkultur“ machte eher klassisch-liberales Feuilleton, das sich an dem der anderen Zeitungen orientierte; in der Berlin-Kultur wurde dagegen mehr die Umgangssprache gepflegt; im „La Vie“ war es am gemütlichsten, und es gab die beste Musik.

Die Folge: Jedes Ressort war doppelt besetzt; es gab eine regionale und eine überregionale Theaterredakteurin usw. Damit die sich nicht so oft im Blatt widersprachen, sollten Zuständigkeiten und Zugriffsrechte auf Veranstaltungen im Sinne der überregionalen Kultur geklärt und die Berlin-Kultur ihre Autonomie verlieren, also einer anderen Redaktion unterstellt werden. Es gab eine erbitterte, teils im Blatt geführte Auseinandersetzung, an deren Ende unsere LieblingsredakteurInnen gekündigt wurden. An diese Auseinandersetzungen zu denken macht traurig, mag’s kulturhistorisch auch interessant sein.

Im Grunde genommen war es der Berlin-Kultur um die Frage einer angemessenen Repräsentation des Realen gegangen. Es ging um ein Feuilleton, in dem die Dinge des Alltags nicht weniger wichtig waren als die Produkte der Kultur. Es ging um das Experiment, Irritation, Indiskretion, Travestie, Sprachspiele, Dead-Pan-Comedy, die kontrollierte Vergesellschaftung des vermeintlich Privaten und natürlich auch darum, Sachen, die wir toll fanden, zu featuren.

Wir fanden die Verlierer (die für uns keine Verlierer waren) super: depressive Popstars wie Daniel Johnston, seltsame Schauspieler wie die Nachtigall von Ramersdorf, Klaus Beyer, den fünften Beatle, Harald Juhnke. Die einfachen, der Schlagermusik zu gewandten Helden von Lothar Lambert. Herbert Achternbusch.

Die Ostler, denen ihr System abhanden gekommen war. Die Super-8-Filme von Dagie Brundert, die damals noch im Layout arbeitete, die Texte von Françoise Cactus, die manchmal auch auf unsren Seiten waren. Horror- und Splatterfilme, die Filme von Ed Wood und Jörg Buttgereit. Verbündet waren wir auch irgendwie mit dem Künstlerhaus Bethanien, dem Ex'n'Pop, dem Kumpelnest, Fischbüro, Eiszeit-Kino, dem „Forum des Jungen Films“ auf der Berlinale.

Lange bevor die FAZ auf ihren auch ganz schönen „Berliner Seiten“, teils auch mit Autoren, die aus der Berlin-Kultur kamen, das quasi Post-Benjaminsche Alltagsfeuilleton entdeckte, hatten wir das gemacht. Rezensionen von Supermärkten und Möbelhäusern, der unvergessene Neukölln-Report von Olga O'Groschen (so nannte sich Johannes Groschupf), O-Ton-Sachen, die stilbildende Narva-Radikal-Recherche von Helmut Höge usw.

Unsere Alltagstexte waren eine Vorform dessen, was später als Popliteratur erfolgreich war, zum Teil auch das Gleiche. Wir fühlten uns immer sehr beleidigt, wenn unsere Texte „schräg“ genannt wurden und gekränkt, wenn Freund Höge meinte, wir schrieben „Lifestyle“-Texte. Als Rache und im Gegenzug hatte ich '95 mit dem Literaturwissenschaftler Fritz von Klinggräff am „Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft“ der FU ein Seminar abgehalten, in dem wir die „Rhetorik des modernen Feuilletons“ anhand des Avantgardejournalismus der Berlin-Kultur untersuchten und vor allem auch die avanciert ästhetischen Textstrategien von Höges Artikeln (die er streng politisch und schmucklos verstanden wissen wollte) gelobt hatten. Zwei unserer Studentinnen wurden später taz-Redakteurinnen.

In den oft assoziativ herumspringenden Alltagstexten ging es darum, das Runde und die Pointe zu vermeiden, irritierende Momente einzubauen, auf keinen Fall etwas zu erfinden, möglichst viele Details einzubauen, andererseits auch nicht zu sehr den eigenen Alltag zu verwerten. Es war wichtig, dass der Text, auch oder gerade, wenn er nur vom Wetter handelte, schnell erschien; denn nächste Woche fühlt es sich schon ganz anders an und man kann nicht mehr voraussetzen, dass dies und jenes noch im Kurzzeitgedächtnis des Lesers ist. Der Zeitungsleser hat auch im Feuilleton den Anspruch auf Aktualität und Nachvollziehbarkeit.

Es war nicht schlimm, wenn die Alltagstexte schnell verwelkten zwischen den anderen Texten der Zeitung. Es ging nicht um Formvollendung – wer Bücher schreiben will, kann ja gleich CDU wählen!, – es ging um etwas Kommunikatives. Die Texte sollten mit denen sprechen, die sie lasen und manchmal auch die beleidigen, über deren Ignoranz man sich ärgerte. Manchmal sollte es einfach angenehm zu lesen sein und stimmen und ähnlich gestimmte Leser ansprechen. Manche Texte waren auch irgendwie Kollektivtexte und verdankten sich Leuten, mit denen man herumhing und deren Welt man mitdokumentierte. Auch wenn wir zur Melancholie neigten, waren wir keine melancholischen Schönschreiber.

Wenn man die Geschichte der Berlin-Kultur als Bandgeschichte schreiben wollte, so war die produktivste Zeit ganz sicher die zwischen 1990 und August 1991, als die Berlin-Kultur mit Jürgen Kuttner, André Meier und Marly Riehmer, den neuen Kollegen aus der DDR, verbündet war und wir ständig tolle Alltagsfeuilletons veröffentlichten. Das lag natürlich an der Zeit.

Mit dem 1. September 1991 endete die Kulturredaktionszeit von Gabriele Riedle, Dorothee Hackenberg und André Meier. Wir hatten ihre Entlassung nicht verhindern können. Manche der ehemalige AutorInnen hörten auf zu schreiben oder schrieben woanders. Das Kollektiv, das wir in guten Zeiten gebildet hatten, war tot. Auch bei vielen derer, die heut noch schreiben, sind Wunden zurückgeblieben wie nach einer ganz fiesen Trennung.

Einen Monat hatte ich die Berlin-Kultur alleine verantwortet und war traurig, dass ich aus Loyalitätsgründen nicht weitermachen konnte. Eine Weile machte ich dann Rundfunk und andere Sachen für Geld. Die Berlin-Kultur wurde mit der überregionalen Kultur zusammengelegt, die mussten sich halt zusammenraufen. Und die Zeit der zwei Päpste sozusagen war vorbei.

Die alte taz mit ihren alten Kollektivideen war Geschichte. Irgendwie war ich danach aber wieder zurückgekommen; weil mir die taz doch am nächsten war, weil ich sie als Homebase brauchte. Nicht mehr als Gleicher unter Gleichen, sondern mit einer Mark statt 65 Pfennig Zeilengeld. Und ab 95 gab's für die ersten 600 Zeilen sogar eine Pauschale von 1.000,–.

Leider war man von da an nicht mehr Teil eines Kollektivtexts, sondern als seriösierter Autor plötzlich vereinzelt. Oft schien es mir so, als wenn die Konflikte, die früher zwischen zwei Redaktionen getobt hatten, nun in einem Zimmer stattfanden. Es gab die Machtorientierten, die Textorientierten, die Familyorientierten und die Spezialisten für irgendwas.

Oft fand ich es schade, als Autor eher allein für die Repräsentation von diesem und jenem eingeteilt zu werden: Als einer der wenigen in der taz (und ohne den spezialistischen Beschreibungsehrgeiz) für Techno und Drogen zuständig zu sein in einem Umfeld, das die soziale Bedeutung von dem, was im Technoumfeld viel massenhafter als '68 probiert wurde, nicht wahrnehmen wollte. Vom „inhaltistischen“ Musikredakteur Thomas Gross gedrängt zu einer Analytik, die man nicht recht leisten wollte, weil man die Wendung von einer ideologischen zu einer ekstaseorientierten, auf Sprache und Aufforderung verzichtenden Massenkultur super fand.

Kulturgeschichte ist ja ein Spiegelungsprozess, in dem das Original weggespiegelt wird. Weil die alte taz so sehr an der Vorstellung des Originals hing, dass die Chefs das taz- in Rudi-Dutschke-Haus umbenannten, konnte und wollte sie die großen Technozeiten nicht verstehen. Die Love Parade (auch als Metapher) war eine Spiegelung von '68 (als Metapher). Der so ganz und gar nicht intellektuelle Dr. Motte, der seine einfachen Reden nur halten musste, weil die Parade sonst als Demonstration nicht anerkannt worden wäre, war das Andere von Rudi Dutschke. Die Worte des Narren (Motte) waren wirkungsmächtiger als die apodiktischen Theorien des großen Kämpfers, der ziemlich flegelhaft wirkt in alten Talkshows. Was Motte beschwor – Love, Peace, Happyness, Ekstase und eine Familie, die größer war als die Kleinfamilie, in der die 68er abends allein bekifft alten Erinnerungen nachhingen – das provozierte, weil es nicht mehr dem Muster hasserfüllter Generationskonflikte entsprach. Es lag auch daran, dass Techno ein paar Jahre klassenübergreifend funktionierte.

Man verlegte sich dann auf Kameratexte, versuchte, den Technokram mit den Alltagsüberlegungen der '68er zu verbinden; war kurz mal beim Spiegel, den man verriet für einen schönen Text, in der Erwartung, nun einen tollen Roman schreiben zu können; war ein halbes Jahr als Berlin-Kultur-Aushilfsredakteur in der taz und ließ das dann, weil man keine Lust hatte, sich zu streiten, redete ein Jahr mit Bommi Baumann für ein Buchprojekt, dass dann doch nichts wurde. Irgendwie verpeilte man auch in gestörten Wohnverhältnissen, während sich die klaren Groß- und Klein-Kultur-Verhältnisse dort draußen auflösten, verlor sich zuweilen in interessanten lebensexperimentellen Versuchen, die man zuweilen dokumentierte in „Tagebuchprojekten“, die „Zwischen den Jahren“ oder in der Jungle World dann erschienen.

Es war komisch, älter werdend und dann auch immer wieder schreibend zu entdecken, wie viel an einem Kollektiv ist. Wie man selber Produkt ist und Teil der Verhältnisse, in die man sich begibt, die man widerspiegelt auch in den asozialsten Macken und Störungen. Wenn man die Dinge danach sortiert, irgendeine Meinung zu füttern oder zu illustrieren, wenn man zu oft pointiert, ist alles wie früher immer noch meist falsch. Das eigene Ich ist vor allem eine regionale, soziale, auch Klassenerscheinung, denkbar ungeeignet, objektivierbare Wahrheiten zu verkünden. Auch deshalb ist die Berlin-Kultur als Haltung aufklärerisch.