LeserInnenbriefe
:

taz.die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin

briefe@taz.de | www.taz.de/Zeitung

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor.

Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Personelle Unterausstattung

betr.: „Rücktritt – oder Bauernopfer?“, taz vom 18. 9. 15

Wenn man die PolitikerInnen derzeit erlebt, könnte man gerade denken, das Problem mit den Flüchtenden sei aus heiterem Himmel über Europa hereingebrochen. Dabei sind die Konflikte schon jahrelang im Gange, die Nachbarländer von Syrien zum Beispiel haben bereits viele Millionen Geflüchtete aufgenommen und sind an ihre Grenzen der Aufnahmefähigkeit gekommen. Dass sich dann die in Not geratenen Menschen weiter auf den Weg in eine aussichtsreichere Zukunft machen würden, war schließlich abzusehen, vor allem, da die internationale Syriennothilfe dramatisch unterfinanziert ist: von den von der Bundesrepublik zugesagten 255 Millionen sind lediglich 10 geflossen, was Innenminister Thomas de Maizières Worte „Entscheidend bleibt die Hilfe vor Ort in den Krisenregionen“ als puren Hohn straft.

Lange Zeit galt Deutschland als „kein Einwanderungsland“; Politiker versäumten es nicht, die Ängste der Bevölkerung vor „massenhaftem Asylmissbrauch“ zu schüren, um letztendlich mit der Verschärfung des Artikels 16 GG, dem angeblichen „Asylkompromiss“, der Verringerung von Flüchtlingen näher zu kommen. Mit der Bestimmung von „sicheren Herkunftsländern“ und der Drittstaatenregelung nach dem Dublin-Abkommen konnte sich Deutschland nun auf der sicheren Seite fühlen, die Probleme waren an die Außengrenzen der EU verlagert worden. Und für die „Sicherung“ der Außengrenzen wurden gewaltige Summen aufgewendet. Dafür konnten Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende und entsprechendes Personal abgebaut werden. So hält die Grüne Simone Peters auch den Innenminister verantwortlich für die personelle Unterausstattung der jetzt in Bedrängnis geratenen Flüchtlingsbehörde. Für denselben Innenminister ist dies aber der Zeitpunkt, um endlich das deutsche Asylrecht auszuhebeln: wenn die Kontingente ausgeschöpft sind, will Thomas de Maizière auch politisch Verfolgte in ihre Heimatregionen zurückschicken, wie er gerade in einem Interview sagte. „Die dürfen wir nicht im Stich lassen. Wir müssen sicherstellen, dass sie in der Region, aus der sie kommen, sicher und ohne Verfolgung leben können.“ Wie das gehen soll, bleibt de Maizières Geheimnis. HELGA SCHNEIDER-LUDORFF, Oberursel

Keine neue Strategie

betr.: „Dann ist das mein Land“, taz vom 19. 9. 15

Ja, man kann sich den Menschen, die zu Tausenden den Flüchtlingen helfen, weil Empathie in ihnen geweckt worden ist, verbunden fühlen. Nein, nicht dem sogenannten Gemeinwesen, das haben die Rechts- und Wirtschaftsbürger, die Peter Unfried uns andienen will, fest im Griff: Über Meinungsbildungshoheit, über Narkotisierung des Verstands durch verbales Trommelfeuer, durch Okkupation aller widerständigen Begriffe, mit den von ihnen mit Milliardensummen finanzierten Thinktanks und, wenn es sein muss, auch mit brutaler Gewalt. Frau Merkel hat ergänzend eine neue Strategie nicht entwickelt, aber bei Ma­chiavelli oder wem immer wieder ausgegraben: der Masse folgen, ein bisschen wenigstens, dieses Wenige aber bombastisch und, wenn es passt, auch anrührend verpackt, damit die Realität nicht so schnell durchscheint. Wenn die Kanzlerin scheinbar spontan einen Satz sagt, der aufhorchen lässt, haben ihre Berater nicht nur die Worte, sondern die Pose und die Gefühligkeit in ihr Verhalten hineingefädelt. Da sitzen ExpertInnen, die minutiös beobachten und bewerten, was geschieht, und das massenkompatible Verhaltensmuster der Kanzlerin konstruieren.

An diesem Gemeinwesen hat sich kein bisschen geändert, das irgendeine Art von – linkem – Patriotismus rechtfertigen könnte: Die Asylgesetze werden weiter verschärft, „nicht jeder kann bleiben“, nimmt die Kanzlerin sich selbst zurück, egal ob die Kinder, die sie zurückschickt, in ihrem Heimatland frieren, hungern oder an irgendeiner Krankheit sterben, weil ihre Eltern kein Geld für Behandlungen haben; die Abschottung der EU-Grenzen wird vor allem von Deutschland mit Nachdruck betrieben – deshalb würde auch kein deutscher Politiker sagen: „Raus mit Ungarn aus der EU!“; dieses menschenverachtende Etikett „Armuts- oder Wirtschaftsflüchtling“ vertreibt die nicht mehr als ein menschenwürdiges Dasein Suchenden weiterhin.

Und dann: keine Veränderung bei der Bekämpfung der Fluchtursachen, Entwicklunghilfeetat weiter bei 0,4 statt, wie die Verpflichtung lautet, bei 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; westliche Öl-, Metall-, Agrar- und Fischereikonzerne verdienen sich zulasten der Einheimischen weiter dumm und dämlich in Afrika und anderswo, weiterhin werden die verbliebenen lokalen Märkte jenseits Europas kaputt gemacht durch Subventionen und Zölle beziehungsweise Handelsabkommen, die die Länder auslaugen, den Menschen die letzten Lebensgrundlagen rauben. Und TTIP und Ceta ziehen den Strick auch um den Hals dieser Länder noch enger. Alles nicht nur mit Billigung, sondern tatkräftig unterstützt von der deutschen Regierung, wenn es den deutschen Interessen denn dient, auch mit Säbelrasseln und Krieg. Möge Unfried diese Bedenken als negativ-links katalogisieren – das ist kein Gemeinwesen, mit dem ich mich verbunden fühlen kann. Diese Realität – das ist die Realität, vor der Sie die Augen verschließen, lieber Peter Unfried – kann nicht durch einen wohlkalkulierten scheinempathischen Satz der deutschen Kanzlerin aufgewogen werden. Und diese Realität wird auch in Zukunft viele Millionen Menschen nach Europa treiben, zu Recht, und wenn wir sie nicht mit offenen Armen empfangen, vergehen wir uns ein zweites und drittes Mal an ihnen.

GÜNTER REXILIUS, Mönchengladbach