„Ein Prosit der Gemütlichkeit“

Volkskunde In München beginnt diesen Freitag die Wiesn, im Berliner Hofbräuhaus am Alex ist das ganze Jahr Oktoberfest: Dort können 2.500 Menschen gleichzeitig zu Stimmungsmusik schunkeln und sich mit Maßkrug und Haxn ihr Bild von Berlin machen

Maßtrinken ist im Hofbräuhaus fest in Touristenhand Fotos: Karsten Thielker

von Michael Sellger

Mit beiden Händen umfasst Yun* den Bierkrug vor sich und führt ihn behutsam zum Mund, um kurz daran zu nippen. In den vergangenen Tagen war der Südkoreaner in Polen, Tschechien, Ungarn und Österreich, als Nächstes will er nach Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal. Europa in vier Wochen: Für Deutschland, das Land mittendrin, hat er zwei Tage – er verbringt sie in Berlin, das als Hauptstadt ja irgendwie typisch sein sollte für das ganze Land, wie er meint.

Nun sitzt er mit zwei Freunden unter Hopfenranken aus Plastik und schreit mit dünner Stimme gegen das „Rosamunde“ der Blaskapelle an. Er hat im Wörterbuch seines Mobiltelefons das Wort nachgeschlagen, das sein Unbehagen in Berlin beschreibt. Er findet schließlich „modernistisch“: „Ich stellte mir das Land viel traditioneller und weniger modernistisch vor“, sagt Yun.

Ein bisschen echte deutsche Tradition glaubt der Südkoreaner an diesem Abend immerhin im Hofbräu am Alexanderplatz zu finden. Er wirft einen Blick durch seine runde Brille auf die Menschen um sich herum, die sich beim Zuprosten mit Selfie-Sticks fotografieren und dabei grölen. Yun lächelt und wirkt dennoch eingeschüchtert von den martialisch anmutenden Gesten. Er scheint nicht allzu gern hier zu sein, auch wenn er trotzdem froh ist, das richtige Deutschland in Berlin gefunden zu haben.

Landschaften aus Würsten

Blasmusik und Bierdunst auf 6.000 Quadratmetern, Bedienungen in Lederhosen oder Dirndl, auf den Tischen fettige Landschaften aus Würsten und Fleisch und an den Wänden würzige Sentenzen wie „Bessa zwoa Ring unta de Augn ois oa Ring am Finga“: Die einstige Kantine der umliegenden DDR-Ministerien nannten die Berliner einst „Fresswürfel“, seit 2011 ist sie ein Biertempel unter dem Banner bajuwarischer Glückseligkeit mit Platz für 2.500 Menschen. Jahr für Jahr werden im Berliner Hofbräu eine Million Liter Bier getrunken, 80 Tonnen Schweinshaxe, 70.000 Wiener Schnitzel, 65.000 Paar Weißwürste, ebenso viele Portionen Leberkäse und 50.000 Hähnchen vertilgt.

„Take me home, country ­roads“, scheppert es auf der Bühne. Ein paar Tische weiter wird ausgelassen geschunkelt. Anna und Alessio, beide Ende vierzig, sind gemeinsam mit ihren Kindern aus Neapel für ein paar Tage nach Berlin gekommen. Sie blicken hinüber zu den Kellnern, die mit riesigen Tabletts auf ihren Schultern durch die Tischreihen eilen, um die knöchernen Überreste eines Fleischgelages zu beseitigen. Anna sagt, ihr sei das alles viel zu laut und chaotisch.

Seit 176 Jahren gibt es in Berlin den „Verein der Bayern in Berlin e.V.“ , Hüttenabende und Schuhplattler inbegriffen. In der bayerischen Landesvertretung in der Behrenstraße – früher die Notenbank der DDR – gibt es im einstigen Tresorraum einen Bierkeller und eine fränkische Weinstube.

Gastronomisch ist Bayern ohnehin fest in Berlin etabliert: Lokale heißen „Weißes Rösl“, „Maria und Josef“ oder „Zum Hax’nwirt“, hinzu kommen diverse Fankneipen des FC Bayern.

Nur dem Namen nach bayerisch ist das Bayerische Viertel in Schöneberg, hier lebten einst Albert Einstein, Gottfried Benn und Eduard Bernstein.

Richtig bayerisch ist Berlin hingegen in der Wiesn-Zeit im Herbst: Von Neukölln bis zum Schlachtensee buhlen gleich mehrere Oktoberfeste um bierseliges Publikum, das Oktoberfest am Weddinger Kurt-Schumacher-Damm ist das älteste von ihnen – am 25. September wird dort zum 65. Mal „o’zapft“. (ms)

Ihr Mann Alessio aber ist begeistert und knipst im Sekundentakt die Kellner, die zuprostenden Menschen an den Nachbartischen und schließlich die Suppenschüssel seiner Frau. Deren Miene will sich nicht aufheitern, „die Deutschen empfinde ich als kalt und unnahbar“, sagt Anna und wirkt mit ihrer säuerlichen Miene dabei selbst sehr deutsch.

„Ein Prosit der Gemütlichkeit“: Im 10-Minuten-Takt stimmt die „Original-Hofbräuhaus-Showband“ die Trinker­hymne an. Und jedes Mal folgt die Zeile „Oans, zwoa – gsuffa!“ An diesem Abend stehen Herbert und Mario auf der Bühne. Herbert ist ein bayerisches Urbild, Lederhose natürlich und ein grauer Bart, freundlich blinzelnde Augen, durchaus auch Bauch und Dialekt: „Des is scho bayrisch, kann man so lassen“, antwortet Herbert auf die Frage, ob die Berliner Version des Münchner Originals überhaupt authentisch sei.

Sein Bühnenpartner Mario lebt in Rosenheim und ist nach bayerischen Maßstäben ein Integrationswunder. Vor 30 Jahren kam der Italiener nach Deutschland, seither spielt er in der Showband bayerische Folklore und Wiesn-Evergreens wie jetzt gerade „Guantanamera“.

Alle zwei Wochen wechselt die Band – 60 Musiker sind es insgesamt – ihre Berliner Besetzung, die das Hofbräu acht Stunden täglich zu bespielen hat. Es muss schon ein harter Job sein für die beiden Männer jenseits der sechzig, acht Stunden täglich professionell fröhlich zu sein und den Bierdurst der Menschen anzuheizen, die kaum Notiz von ihnen nehmen: „Oans, zwoa, – gsuffa!“.

Die Band spielt auch im Münchner Hofbräuhaus, dem 426 Jahre alten Original, Gründungsort der NSDAP und Flaggschiff bayerischer Kulturexporte. Seit vielen Jahren schon gibt es Hofbräuhäuser überall auf der Welt, seit 1988 etwa in Tokio oder seit 1999 in Dubai. Mario kennt sie alle, „die Menschen trinken überall gleich“, sagt er, nimmt einen letzten Schluck Helles und geht mit Herbert auf die Bühne zurück.

Wahrscheinlich haben die Hofbräuhäuser dieser Welt das Bild von Deutschland mehr geprägt, als es das Goethe-Institut je könnte. „Bayern, des samma mia!“, singen sie jedes Jahr auf der Wiesn, dabei sind wir es alle ein bisschen: Der stereotype Deutsche im Ausland trägt, falls er nicht gerade in einer Nazi-Uniform steckt, bayerische Tracht.

1 Million Liter Bier, 80 Tonnen Schweinshaxe und 65.000 Paar Weißwürste

Auch in Rio steht ein Hofbräuhaus, Jezuz war schon drin und hat sich dort in Deutschland verliebt. Im vergangenen Jahr war der 84-jährige Brasilianer mit dem Basecap mit dem großen bayerischen Wappen im Münchner Hofbräuhaus am Platzl, und jetzt ist er hier am Alexanderplatz. „Hier finde ich echte deutsche Kultur“, weiß Jezuz.

Jezuz zählt auf, was deutsche Kultur für ihn bedeutet: deftiges Essen, gutes Bier, rustikales Ambiente. Dafür hat er seinen Beruf als Bankberater noch immer nicht an den Nagel gehängt – die Reisen nach Deutschland kosten. Und Jezuz mag Deutschland wirklich. Bevor er geht, zeigt er noch stolz seine Jacke, auf der der Bundesadler der Fußball-Nationalmannschaft und die vier Weltmeistersterne prangen.

Vielleicht trifft das auch auf die sieben Amerikaner in Muscle-­Shirts mit der Aufschrift „Europe 2015“ zu, denen gerade zwei Dutzend übereinandergeschichtete Weißwürste serviert werden, während die Kapelle „See you later, Alligator“ anstimmt. Die Kunst, sie wurstgerecht zu zuzeln, ist ihnen so unbekannt wie das Sakrileg, eine Weißwurst noch am Nachmittag verzehren zu wollen. Am Nachmittag Eastside Gallery und Sony Center, am Abend Hofbräuhaus – Berlin, Bayern, einerlei.

Manchmal kommen auch ganze Reisebusse mit Amerikanern auf Kreuzfahrt hier an, die direkt vom Hafen in Rostock-Warnemünde für ein paar Stunden ins Hofbräuhaus gebracht werden und sich bei Maß und Haxen ihr Bild von Berlin machen.

Biertrinken geht auch allein

Das letzte echte Wirtshaus

Björn Schwarz ist der Wirt im Berliner Hofbräuhaus seit Anbeginn, zuvor war er Chef eines der drei Hofbräuhäuser in Hamburg. Die Häuser in Hamburg und Berlin gehören zusammen, von dem in München sind sie unabhängig. Schwarz sagt, Hofbräuhäuser funktionierten auch an Alster und Spree so gut, weil das Wirtshaus als Institution ansonsten verschwunden sei. „Die Leute haben nie Gelegenheit, miteinander zu schunkeln oder ihre Maß Bier auf den Tisch zu knallen, hier finden sie das noch.“

Einmal von den Zumutungen der Gegenwart befreit, können sich seine Gäste bierselig diesem ganzjährigen Oktoberfest ergeben, so wie im bayerischen Gassenhauer „In München steht ein Hofbräuhaus“ besungen: „Da hat so manche braver Mann / Gezeigt was er so vertragen kann / Schon früh am Morgen fing er an / Und spät am Abend kam er heraus / So schön ist’s im Hofbräuhaus.“

Komponiert hat das Lied übrigens ein Berliner.

* In allen Bierzelten der Welt duzt man sich, weshalb die taz auf Nachnamen verzichtet hat– Prosit!