Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 2: Fritze findet Freundlichkeit

Meine Jüte, schon wieder Weltunterjang!“ Er liebte es, wenn sie fluchte.

Donnerhall und Blitzschläge hatten die Straße zwei Nächte und einen Tag lang in einen Tunnel aus Lärm, Licht und Wasser verwandelt, Keller geflutet und Äste von den Bäumen gerissen. Hildegard stand, mit einem Wischmob hantierend, im blaulicht, richtete sich kurz auf und wurde der Anwesenheit Fritzes gewahr. Sie lächelte ihr Mädchenlächeln und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Du bist die Schönste!“

„Na und du erst!“

Ächzend nahm er die kleine Stufe, die in den Gastraum führte, atmete kurz durch und setzte behutsam Schritt für Schritt an den Tresen. Sein alter Gehstock gab ihm keine Würde, aber Halt.

„Hab dich schon vermisst.“

„War mir zu heiß jewesen.“

Fritze hatte schon vor längerer Zeit aufgehört, über seinen Zustand zu klagen. Das nahm doch eh keiner mehr wahr hier, im blaulicht. Zwei Jahre war es her, da hatten sie ihn mit einem rauschenden Fest nach Italien verabschiedet. Lale, die jugendliche Nachtbedienung, hatte extra bunte Lampions in die Krone des Haselnussbäumchens gehängt. Djangos Band spielte Runde um Runde. Hildchen ließ ein Fass springen. Und als die Plätze nicht mehr ausreichten, machte sie ihrem Ruf alle Ehre, indem sie Sitzgelegenheiten aus den umliegenden Hinterhöfen organisierte. Die Gäste hockten auf Reifen, ausrangierten Kühlschränken und Gemüsekisten. Ringsum streckten die üblichen Verdächtigen ihre Handys aus den Fenstern: „Da, hören sie nur! Das geht doch so nicht! Hören sie!“ Bis schließlich zwei sehr junge, sehr müde Polizisten vor den Haufen lärmender, besoffener, doch rundweg friedlicher Gäste traten. Wer die oder der Verantwortliche sei? „Na wir alle!“ Schallendes Gelächter.

Es war ein bisschen wie früher gewesen. Für eine Nacht hatte sich die Straße noch einmal in jenes entgrenzte Laboratorium verwandelt, das als Ostberlin der Neunziger in den Reiseführern herumgeisterte.

„Jaja, die Abschiedsfeier.“ Fritze lehnte sich vorsichtig an einen Barhocker. Noch beim Losgehen war er fest entschlossen gewesen, nur einen Kaffee zu trinken. Er musste unbedingt vor Ausbruch der Mittagshitze wieder zuhause sein. Seine Pumpe hielt das nicht mehr aus. Aber nun, beim Anblick des heimatlichen Tresens und voller Erinnerungen an diesen denkwürdigen Abend...

Hilde konnte seine Blicke deuten.

„Neenee, mein Lieber. Ick koch uns Kaffee.“

Auch dafür liebte er sie.

Nebenan befreite Anne Tische und Stühle mit einem Ausdruck der Verwunderung von ihren Schlössern. Die Handgriffe waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen, doch der Kopf wollte sich nicht daran gewöhnen. Möbel anschließen! Der Typ von der Versicherung hatte darauf bestanden. Misstrauisch blickte sie zu Hildegard hinüber, die ihre Wassereimer in den Gulli entleerte. Gestern war es wieder heiß her gegangen, drüben im blaulicht. Dieser Django hatte mit seiner Gitarre rhythmisch auf ein Fahrrad eingedroschen und ihren Gästen damit blankes Entsetzen in die Gesichter geschlagen. Drüben bei Hildegard dagegen waren alle ganz ruhig geblieben, als sei das normal, eine Gitarre zu ermorden! Aber was ist schon normal, wenn eine ihre Möbel anschließen muss.

Hildegards Höhle hatte einmal Fritze gehört. In einem früheren Leben, als das Herz noch gesund, diese Straße noch sein Zuhause gewesen war. Immerhin existierte das blaulicht noch, eine von zwei Kneipen, die den Kaufrausch und die Sanierungswut überlebt hatten. Aber während die Leute dem neuen Bioladen nebenan vom ersten Tag an die Türen einrannten, war hier die Kundschaft nach und nach ausgeblieben. Mit jedem Jahr und jeder nötigen Preiserhöhung waren es weniger geworden. Zum Glück verirrten sich nachts manchmal Touristen hierher. Seit sie um die Ecke ein Hostel in eine Baulücke gesetzt hatten, zogen ganze Schulklassen aus Nordrhein-Westfalen, München oder London durch den Kiez. Ihre Suche nach Rauschmitteln hatte Fritze lange über Wasser gehalten. Ein dealender Opi, so was spricht sich rum. Die Sache war ein Tabu zwischen ihm und Hildegard. Das einzige.

„Danke für den Kaffee.“

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels, Jhg. 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band „Der Singende Tresen“. Soeben erschien beim Verbrecher-Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com

Seufzend machte sich Fritze auf den Heimweg.

Mit den steigenden Temperaturen wuchs die Schlange vor Annes neuem Bio-Eisstand. Der blasse Student, den sie für den Verkauf angestellt hatte, war wohl ein Fehlgriff gewesen. „Du musst lächeln“, hatte sie ihn mehrfach ermahnt, aber er schien es nicht zu begreifen. Gerade streckte ihm ein pausbäckiges Kind aufgeregt ein Zwei-Euro-Stück entgegen. Mit unbewegter Mine blickte er auf den Zwerg herab, hielt dessen Eis in der Hand und schwieg. Gleich würde das Kind losheulen. „Florian, kommst du mal nach hinten?“ Anne spendierte noch eine Runde Eis für den ganzen Tisch, dann feuerte sie Florian, während sie zufrieden das Familienidyll vor ihrem Schaufenster betrachtete. „Kannst gehen. Ich überweise das Geld.“

Florian zögerte nicht. Umstandslos setzte er sich nach nebenan. Mehr Rache ging nicht, das zumindest hatte der Student der Politikwissenschaft gelernt. Indem man sich für eine der Tischvarianten links oder rechts entschied, wählte man auch eine Haltung, die nur bedingt mit dem Verzehr ökologisch einwandfreier Waren zu tun hatte.

„Ein Helles.“

„Klein oder groß?“

„Na groß!“

Hildegard rümpfte die Nase. Kam ihr dieser blasse Bio-Misanthrop etwa pampig? Sie machte kehrt und prallte unverhofft gegen Django. Gewappnet mit dem Odem der Hölle, umfasste er ihre Hüften: „Hassu meine Gitarre gseeehn?“ Fritzes Stock traf ihn hart, kalt und völlig überraschend. Eigentlich mochte er den Jungen. Mal gut, dass er das Koks vergessen hatte.