„Merkel ist ein Krisentalent“

Die Kanzlerin in spe hat es nach dem Abgang Edmund Stoibers wieder einmal schwer – doch ist sie erst in ernsten Situationen richtig gut. Die Partei hat sie per SMS-Botschaften im Griff – und tippt inzwischen schneller als ein Teenager

taz: Frau Roll, Angela Merkels Dauerwidersacher Edmund Stoiber bleibt in Bayern. Ist Merkel jetzt eine glückliche Frau?

Evelyn Roll: Ich glaube nicht, dass Edmund Stoiber etwas tun oder lassen kann, um Angela Merkel glücklich zu machen. Im Ernst: Dass Stoiber in Bayern bleibt, macht es für sie nicht einfacher. Er wird als Ministerpräsident in Bayern noch unberechenbarer. Angela Merkel muss sich auf eine ganz neue Lage einstellen. Aber das ist ja eine ihrer größten Stärken.

Woher nimmt sie diese Flexibilität?

Sie ist Physikerin. Sie denkt anders als die Juristen und Sozialwissenschaftler, die wir sonst im Politikbetrieb haben. Juristen und Sozialwissenschaftler bewegen sich in fest gemauerten Gedankengebäuden, die sie um jeden Preis vor dem Einsturz bewahren wollen. Wenn aber ein Physiker durch Denken oder Experimentieren eines der bestehenden Gedankengebäude zum Einsturz bringt, ist er schon fast reif für den Nobelpreis. Der Einsturz eines bestehenden Modells ist für einen Physiker keine Katastrophe, sondern eine Herausforderung. Deswegen ist Angela Merkel auch nicht so leicht zu irritieren oder gar zu demütigen.

Mit welchen Alltagsstrategien zwingt Merkel der Partei ihren Willen auf?

Sie ist Weltmeisterin darin, ihre nähere und fernere Umgebung per SMS zu kontrollieren. Das ist eine Technik, die sie bei Helmut Kohl gelernt und weiterentwickelt hat. Sobald Merkel ins Auto steigt oder in einer Konferenz nicht selber sprechen muss, hat sie das Handy in der Hand. Sie tippt so schnell wie ein Teenager.

Beeinflusst ihre Ostherkunft Merkel politisch?

Angela Merkel ist ja längst Teil des wiedervereinigten Systems. Aber als Ostdeutsche blickt sie immer noch auch von außen darauf. Das schärft die Analyse. Nur deswegen konnte Merkel auch schon ein paar Wochen vor den anderen in der Union erkennen, dass Helmut Kohl nach Spendenaffäre und Ehrenwort nicht mehr zu halten war. Das ist wie mit dem Frosch und dem Kochtopf: Wenn Sie einen Frosch in einen Wassertopf setzen und dann die Herdplatte andrehen, lässt so ein armer Frosch sich zu Tode köcheln. Setzen Sie den Frosch aber in bereits kochendes Wasser, springt er heraus.

Die Debatte um das Frausein Merkels – ist sie aufgebauscht?

Vor der Wahl dachte ich: Dass Merkel eine Frau ist, spielt keine Rolle. Ich habe mich geirrt. Daher lagen auch die Meinungsforscher so daneben. Kaum einer hat den Umfragern gesagt: Ich wähle keine Frau in ein Spitzenamt. So wie in den USA kaum jemand zugibt, einen Schwarzen nur wegen seines Schwarzseins nicht zu wählen. In Amerika haben die Meinungsforscher gelernt, diesen Flunkerfaktor in ihre Umfragen einzubauen. In Deutschland haben sie es auch schon einmal gelernt, bei der PDS. Und jetzt haben wir eben auch das noch dazugelernt: Es gibt Menschen, die eine Frau nicht in Spitzenämtern sehen wollen, das aber nicht zugeben würden.

Funktionieren solche Mechanismen auch bei Merkels Politikkollegen?

Nicht wirklich. Denken Sie an den rüpelhaften Auftritt von Gerd Schröder am Wahlabend. Da ist aus ihm auch herausgebrochen, was er wohl die ganze Zeit schon dachte: dass er sich nicht von einer Frau ablösen lassen will. Momentan geht es aber eher um Sach- und Strategiefragen. Stoiber mag ein Sonderfall sein. Er verhält sich nicht allein sachgesteuert, sondern emotional, und das heißt in der Politik: gefährlich.

Merkel wird oft vorgeworfen, zu wenig zu sagen – und sich über ihre Visionen auszuschweigen …

Das ist ihr Schwachpunkt. Eine Parteivorsitzende kann Wahlen offenbar nicht gewinnen, wenn sie ihre eigenen politischen Vorstellungen nicht ständig mitteilt – auch innerhalb der eigenen Reihen. Merkel setzt zu schnell voraus, dass das, was sie selbst als klug erkannt hat – zum Beispiel, Wähler nicht länger über notwendige Steuererhöhungen zu belügen –, auch von allen anderen so gesehen wird. Sie müsste beharrlicher versuchen, andere einzubinden. Vor allem die, die sich hinter sich gelassen hat und die sich als Verlierer fühlen. Das hat natürlich auch mit Frauenklischees zu tun. Ein Mann, dem eine Spitzenkarriere gelingt, gilt als toller Hecht, der einen Konkurrenten nach dem anderen aus dem Weg räumt. Bei einer Frau türmen sich am Wegrand ihrer Karriere gemeuchelte Männerleichen.

Wird Merkel die aktuelle Krise souverän überstehen?

Im Moment sieht es nicht danach aus – wieder einmal. Aber es sah bei Angela Merkel nie danach aus. Sie hat eine große Begabung, aus Krisen etwas zu machen. Aus dem Zusammenbruch der DDR ist Angela Merkel in die Politik und zur CDU gekommen. Aus der Schwäche und dem drohenden Untergang der CDU heraus wurde sie Parteivorsitzende. Merkel behält in schwierigen Situationen die Nerven. Sie hat Erfahrung mit dem kreativen Umgang in existenziellen Brüchen. Sie ist ein Krisentalent. Wahrscheinlich werden wir uns am Ende wieder einmal alle wundern.

INTERVIEW: COSIMA SCHMITT