Demokratie kriegt Kinderstube

MACHTFRAGE Kitas in Schleswig-Holstein trainieren Partizipation: „Kinderräte“ stimmen darüber ab, wie Räume eingerichtet werden und welche Praktikantin eingestellt wird

Das Modell geht auf die antiautoritäre Erziehung zurück, die „Kinderläden“ praktizieren es schon lange

VON ESTHER GEISSLINGER

Einen Tag hat die junge Frau Zeit, das Publikum von ihren Qualitäten zu überzeugen. Am Ende stimmen die Kinder der Awo-Kindertagesstätte „Lotte Lemke“ in Halstenbek bei Hamburg ab, ob die Bewerberin für ein längeres Praktikum bleiben darf. „Das machen wir mit den Muggelsteinen“, erklärt Heilpädagogin und Kita-Mitarbeiterin Britta Henningsen. Gemeint sind farbige Glassteinchen, die sich als Deko-Material verwenden lassen. In Halstenbek sind sie ein Mittel, um Kinder an die Macht zu bringen.

„Kinderstube der Demokratie“ heißt das Konzept, dass das Land Schleswig-Holstein im Jahr 2001 als Modellprojekt startete und das auch in andere Bundesländer übertragen wurde. Das Gebot, Kinder und Jugendliche in den Kommunen zu beteiligen, hatte die damalige Jugendministerin Heide Moser (SPD) bereits 1996 in die schleswig-holsteinische Gemeindeordnung schreiben lassen. „Zahlreiche weitere Bundesländer haben ähnliche Formulierungen in ihre Gemeindeverfassung aufgenommen“, teilt das Ministerium stolz mit.

Da für die Beteiligung keinerlei Altersbegrenzungen vorgesehen sind, gelte sie auch uneingeschränkt für Kindertageseinrichtungen, schlussfolgert der Diplom-Sozialpädagoge Rüdiger Hansen vom „Institut für Partizipation und Bildung“ in Kiel. Hansen, die Kieler Sozialpädagogik-Professorin Raingard Knauer und ihr Kollege von der Hamburger Universität, Benedikt Sturzenhecker, haben zahlreiche Aufsätze zur Partizipation der Kleinsten veröffentlicht.

Das Modell geht auf die antiautoritäre Erziehung zurück, die linken „Kinderläden“ in Berlin oder Hamburg praktizieren es schon lange. Die „Kinderstube der Demokratie“ wendet sich dagegen an ganz normale Kitas: In der ersten Modellphase entwickelten 70 Kitas eigene Verfassungen, andere gründeten Kinderbeiräte oder entwickelten alternative Formen der Beteiligung. Dabei geht es in der Regel eher um die Großen als um die Kleinen: „Im Projekt gerieten wir nie an die Grenzen der Kinder, aber immer wieder an die Grenzen der Erwachsenen“, heißt es im Abschlussbericht des Modellversuchs. Das Fazit: „Partizipation beginnt in den Köpfen.“

Wer sich darauf einlässt, erlebe immer wieder positive Überraschungen, berichtet Kita-Mitarbeiterin Henningsen. „Ich staune, wie Kinder Entscheidungen treffen, sogar die ganz kleinen.“ Dinge, die sie direkt angehen, könnten bereits Eineinhalbjährige entscheiden: „Kinder fühlen, was sie brauchen. Wenn ein Kind keine Milch will, stellt sich oft heraus, dass es eine Laktose-Intoleranz hat. Und Kinder schreiben auch nicht jeden Tag Pommes auf den Speiseplan.“

Die Mitbestimmung zeigt es bei „Lotte Lemke“ an allen Ecken. Kita-Leiterin Claudia Baumann zeigt auf einen Zettel an der Tür der „Wolkengruppe“. Darauf gemalt sind bunte, durchgestrichene Kästchen und daneben lachende Gesichter. „Hier informiert der Kinderrat über seine Sitzung“, sagt sie. Was das heiße? Baumann muss ins schriftliche Protokoll schauen, dann ist alles klar: „Im Kindercafé sollen künftig Bilder mit Menschen drauf hängen.“

Es gibt nur wenig, was die Kinder in Halstenbek nicht mitentscheiden dürfen. Henningsen muss erst in die Verfassung schauen, um welche Punkte es sich handelt: Finanzen und Öffnungszeiten. Alles Weitere, wie die Räume eingerichtet werden, welche Projekte bearbeitet werden, wer eingestellt wird, bestimmen die Kinder mit – und dürfen die Erwachsenen sogar überstimmen.

Auch wenn die Modellphase vorbei ist, läuft das Projekt weiter. So beendeten im vergangenen November 20 neue „Multiplikatoren für Partizipation in Kindertageseinrichtungen“ ihre Ausbildung. Sie sollen als „Demokratie-Entwickler“ in einzelne Kitas gehen und dort ihr Wissen weitergeben. Die Forscher, die das Modellprojekt begleitet haben, fanden heraus, dass Kinder, die Beteiligung trainiert haben, auch später darauf achten, mitreden zu dürfen. Als sie in die Schule kamen, interessierte die Mädchen und Jungen eine Frage besonders: „Wann tagt denn hier der Kinderrat?“