Atomausstieg wird zur Chefsache

SPD und Union können sich bei Koalitionsverhandlungen nicht einigen. Stoiber und Gabriel sollen den Atomkonsens nun regeln. Ver.di-Chef Bsirske schreibt an designierte Kanzlerin Merkel: Atomausstieg gilt zwar weiter, soll aber modifiziert werden

VON NICK REIMER

Überraschender Besuch bei Deutschlands großen Energiekonzernen: Aktivisten von Robin Wood stiegen gestern Vattenfall, RWE, Eon und EnBW aufs Dach. Von den Konzernzentralen spannten sie Riesenbanner auf: „Unternehmen Strahlentod“, prangte etwa an der Karlsruher EnBW-Fassade. „Aus Bewag wird Vattenfall – und Umweltschutz bleibt Lüge“, hieß es in Berlin. Gleich lautend hieß es überall: „Atomausstieg jetzt“.

Gut getimt: In Berlin traf sich gestern die CDU-SPD-Verhandlungsgruppe Umwelt, um über den Atomkonsens zu verhandeln. Ohne Einigung. Jetzt sollen CSU-Chef Edmund Stoiber und der designierte SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel einen Sondierungsversuch starten. Dabei soll auch über die Suche nach einem Endlager gesprochen werden, bei dem die Union als Standort Gorleben vorzieht.

Die heftige Debatte vor Wochenfrist hatte ausgerechnet die Gewerkschaft Ver.di ausgelöst. Obwohl sie sich den Atomausstieg in die Statuten geschrieben hatte, verfasste Ver.di-Boss Frank Bsirske gemeinsam mit Vattenfall, RWE, Eon und EnBW ein Papier, das längere Laufzeiten fordert. Seither bekommt Bsirske viel Post: „Lieber Frank Bsirske, als langjähriges Mitglied von ÖTV und Ver.di fordere ich Dich auf, die Unterschrift von Ver.di unter das Energiepapier mit den Stromkonzernen sofort zurückzunehmen. Halbherzige Presseerklärungen reichen nicht aus, um den Schaden zu begrenzen, den Ihr mit Eurer Unterschrift bereits angerichtet habt“, schrieb etwa „mit Unverständnis und Wut: Prof. Thomas Sauer“. Sauer lehrt in Jena Betriebswirtschaft.

Offenbar ist die Austrittswelle so groß, dass Ver.di gestern reagierte. In einem Brief an Angela Merkel schrieb Bsirske: „Die Prüfung anderer Endlager-Standorte muss forciert werden“. Innovative Techniken wie die Kraft-Wärme-Kopplung seien unverzichtbar. Das gemeinsame Papier mit Vattenfall, RWE, Eon und EnBW gehe jedenfalls davon aus, dass der Atomkonsens „nach wie vor gilt und weiter gelten soll“.

„Das Papier ist völlig falsch interpretiert worden“, erklärte gestern Jürgen Hogrefe der taz. Hogrefe leitet den EnBW-Bereich Politik. Mitnichten fordere es längere Laufzeiten, vielmehr sei es „ein Plädoyer für eine ideologiefreie Debatte um die Energieversorgung der Zukunft“. Herr Hogrefe: Ist der Konsens denn unideologisch? „Regelwerke müssen den Notwendigkeiten der Zeit angepasst werden. Das gilt für das Grundgesetz genau so wie für den Atomkonsens.“

Findet auch Frank Bsirske. An Merkel schrieb er: „Um den CO2-Ausstoß weiter zu senken, kann es erforderlich sein, Atomenergie zur Stromerzeugung in der Grundlast einzusetzen.“ Im Rahmen des Atomkonsenses sei dies möglich, wenn „Restlaufzeiten zwischen einzelnen Kraftwerken übertragen würden“.

Bsirske schrieb nicht nur an Merkel. Die Post an alle andere lautet so: „Ihre Austrittserklärung haben wir erhalten, eine postalische Bestätigung geht Ihnen in den nächsten Tagen zu. Vorher bitte ich Sie, Ihren Austritt nochmals zu überdenken.“