REALITÄT UND KLISCHEE
: I Fought in a War

Ein Musikalienhandel, der sich Dr. Rock oder so schimpfte

Nachdem ich mir zu Hause zum zehnten Mal „I Fought in a War“ von Belle and Sebastian angehört hatte, dachte ich, ich könnte das Stück ja vielleicht auch selbst nachspielen. Ging aber nicht, da eine Saite immer noch nicht bespannt werden konnte. Die Schraube war samt Mutter kaputt.

Wenig später, auf dem Weg zum Drogeriemarkt, entdeckte ich in einer Seitenstraße tatsächlich einen Musikalienhandel, der sich Dr. Rock oder ähnlich schimpfte. Froh gelaunt betrat ich den kleinen Laden, der mit allerlei Verstärkergedöns und schwerem Gerät vollgestellt war, und streckte dem Ladenhüter meine Hand mit Schraube und Mutter entgegen: Ob er so etwas da habe? Nein, er glaube nicht, sagte er und zog alibihaft eine Schublade seines Schreibtischs auf und zu. Auf dem Schreibtisch vor ihm stand ein Teller mit einem zu einem Viertel aufgegessenen Stück Schokoladentorte. Ich schaute von dem Kuchen auf den Mann zurück, der etwas älter als ich schien, übergewichtig, mit schwarzen, nicht wirklich frisierten halblangen Haaren, und der dazu einen undefinierten, sagen wir einmal ungewaschenen Eindruck machte.

Links auf seinem Schreibtisch stand ein Bildschirm, auf dem das Portal einer Pornoübersichtsseite mit zahlreichen Bildern blinkte. „Ist für eine Akustikgitarre“, sagte ich. – „Ja, ich weiß, habe ich aber nicht“, meinte er und blieb sitzen. Unverrichteter Dinge war ich schnell wieder draußen.

Es gibt Realitäten, dachte ich dann auf der Verkehrsinsel, die übertreffen jedes Klischee. Kleine Rechtsanwälte, die sich zum Vergnügen in eigens gemieteten Einraumwohnungen auspeitschen lassen, arbeits- und kinderlose Frauen um die Vierzig, die eine Spielsucht ausgerechnet mit Solitär entwickeln. Selbstaufgabe und Verzweiflung, die meist von sich selbst nichts wissen will. „I Fought in a War“ summte ich weiter und betrat den Drogeriemarkt wie geplant, um mir ein neues Duschgel zu kaufen. RENÉ HAMANN