Wenn die Beine den Körper nicht tragen

SCHMERZ Sören Maiwald hat die Glasknochenkrankheit. In der DDR verordnete man ihm Höhensonne. Und heute?

■ Die Krankheit: Eigentlich wird sie Osteogenesis imperfecta genannt, ihren umgangssprachlichen Namen hat sie, weil die Knochen förmlich wie Glas brechen. Es ist eine Erbkrankheit, die Knochendichte ist sehr gering, weil ein bestimmtes Kollagen im Bindegewebe stark verändert ist.

■ Die Behandlung: Da die Krankheit genetisch bedingt ist, können nur die Symptome behandelt werden. Durch gezielte Infusionen kann mittlerweile aber die Knochendichte erhöht werden.

VON HEIDRUN BÖGER

Als Sören Maiwald etwa zwei Jahre alt war, brach er sich zum ersten Mal im Laufgitter ein Bein. Das war zwar etwas seltsam, aber auch nicht weiter schlimm. Die Eltern dachten sich nichts dabei, gingen mit ihm zum Arzt. Der behandelte den Bruch, gipste ihn ein. Doch der Kleine brach sich immer wieder etwas, beim Niesen zum Beispiel die Rippen. Sören Maiwald hat Osteogenesis imperfecta, die Glasknochenkrankheit. Nur 4 bis 7 von 100.000 Neugeborenen kommen damit auf die Welt.

Sommer im sächsischen Pflückuff bei Torgau. Sören Maiwald hat es schön hier in seinem Haus mit Garten. Alles ist rollstuhlgerecht gebaut, er kann jederzeit rausrollen, Hund Jeannie auf dem Schoß. Wenn er so nachdenkt, staunt der 46-Jährige selbst über sein Leben.

Wie schön es ist. Und trotzdem: Er hat keine Ausbildung, keine Arbeit und jeden Tag Schmerzen. „Ich gehöre zu einer Vogelart, die in Gefangenschaft nicht singt“, sagt er. Gefangen ist er in seinen Schmerzen.

Einige, die an der Glasknochenkrankheit leiden, können später sogar laufen. Prominentes Beispiel: der Kinderarzt Oliver Semler von der Uni-Klinik in Köln. Die meisten sitzen aber, wie Sören Maiwald, im Rollstuhl. Wegen der vielen Brüche wachsen die Beine irgendwann nicht mehr, sie können den Körper nicht tragen.

Wie bei vielen anderen auch ist bei ihm das Rückgrat verdreht wie eine Spindel, die Skoliose verursacht Schmerzen. Vor etwa vier Jahren hat er sich zum letzten Mal etwas gebrochen, und zwar das Becken. Es heilte schlecht zusammen, ein Jahr lang lag er im Bett.

Familie Maiwald lebte schon zu DDR-Zeiten in Torgau, Pflückuff ist ein idyllisch gelegener Ortsteil am Stadtrand, etwa eine Autostunde von Leipzig entfernt. Die Krankheit war damals so gut wie unbekannt. Mindestens fünfmal haben Ärzte dem Kind aus Versehen bei der Behandlung etwas gebrochen.

Sie verordneten Höhensonne und ließen den Jungen zerkleinerte Eierschalen essen. Der Vater, Hochseefischer von Beruf, diskutierte im Auto mit seiner Frau über die Zukunftsaussichten ihres Ältesten: „Was soll aus ihm werden, was kann er denn?“ Der Junge hörte auf dem Rücksitz alles mit. Irgendwas mit Schreiben vielleicht, meinte der Vater. Später arbeitete Sören Maiwald tatsächlich 12 Jahre lang als Redakteur der Leipziger Volkszeitung. Hoch bezahlt.

Er, der Junge mit dem Abschluss der zehnten Klasse, ohne Abitur, ohne Studium. Aber mit einem Intelligenzquotienten von 134. Als Kind sollte Sören Maiwald in ein Heim, das kam für die Mutter nicht infrage. Sören blieb zu Hause, der Lehrer kam zu ihm. Die Eltern setzten nach vielem Hin und Her durch, dass ihr Sohn eine normale Schule besuchen konnte. Keine der umliegenden Einrichtungen wollte ihn nehmen. „Was ist, wenn etwas passiert?“, fragten sie. Schließlich setzte ein Schulrat den Schulbesuch per Anweisung durch. Die 6. Oberschule Torgau musste den Zehnjährigen aufnehmen. Behindertengerecht war da aber nichts. Musste die Klasse das Fachkabinett wechseln und in eine andere Etage ziehen, kam Sörens Mutter in die Schule und brachte ihren Sohn dorthin. Alle 45 Minuten, sechs Jahre lang.

Zum Schluss hatte er den Abschluss der zehnten Klasse, Durchschnitt 1,2.

Dennoch war an Abitur nicht zu denken. Versuche, eine Ausbildung als Uhrmacher oder medizinisch-technischer Assistent zu absolvieren, scheiterten.

Später machte Sören Maiwald auf der Abendschule dann doch noch ein Teilabitur, aber nur im Fach Biologie. Die Maiwalds waren mittlerweile bei der zuständigen Rehabilitationsstelle in Torgau als Querulanten verschrien, man warf ihnen „Verleumdung des sozialistischen Gesundheitswesens“ vor. Er selbst dachte nur: „Ich passe hier nicht ins Bild.“ Zum Schluss arbeitete er als Beschlagbeutelpacker, für 320 DDR-Mark im Monat: „Das heißt, ich sortierte Schrauben in einen Beutel.“ Er war 20 und das Leben fast vorbei.

Doch dann kam die Wende. Sören Maiwald hatte schon seit Längerem als sogenannter Volkskorrespondent gearbeitet, etwa 7 DDR-Mark gab es dafür im Monat. Nach 1989 war im Osten Deutschlands alles möglich, auch dass ein behinderter junger Mann im Rollstuhl als fest angestellter Journalist bei der Leipziger Volkszeitung in Torgau arbeitete. Recherchen erledigte er oft am Telefon, zum Termin fuhr er mit seinem Auto und bat die Gesprächspartner, sich zu ihm in den Wagen zu setzen: „Wenn man freundlich auf die Leute zugeht, ist vieles möglich.“

Allerdings war er auch ein streitbarer Redakteur, legte sich in wirren Nachwendezeiten mit den Großkopferten in Torgau an, deckte Missstände auf. Die Kritisierten setzten sich zur Wehr. Es gab Zeiten, da hatte der Journalist Sören Maiwald mitten in der sächsischen Provinz Polizeischutz, weil es Drohungen gegeben hatte. Er ist keiner, der immer vernünftig ist. So kaufte er sich damals einen sportlich geschnittenen Wagen, auch wenn der für einen Rollstuhlfahrer eher unpraktisch ist. Die Behinderung hat er einfach ignoriert.

Wegen der vielen Brüche wachsen die Beine irgendwann nicht mehr

Doch irgendwann war Schluss, die Redaktion in Torgau wurde dichtgemacht, und Sören Maiwald eine Stelle im 60 Kilometer entfernten Haupthaus in Leipzig angeboten, die er für ein Jahr auch annahm. Dann wollte man den unbequemen Redakteur loswerden, so jedenfalls sieht er es heute. Er reagierte mit langen Krankheitszeiten, wurde gekündigt, er klagte und bekam recht: „Ich war nervlich am Ende und nahm die Abfindung.“

Geblieben ist ihm aus dieser Zeit sein Haus in Pflückuff, in dem er mit seiner Frau Petra seit zwanzig Jahren lebt. Allerdings ist er nach wie vor hoch verschuldet. Der Sohn seiner Frau, den sie mit in die Ehe gebracht hat und den Sören Maiwald sieht wie einen eigenen, ist dreißig, er wohnt in Hamburg. Sörens Mutter hat eine Wohnung im Dachgeschoss.

Der Fortschritt ermöglicht auch Sören Maiwald zunehmend ein besseres Leben. Im Sommerurlaub auf der Ostseeinsel Usedom entdeckte er durch Zufall einen geländegängigen Rollstuhl. „Meine Frau liebt Strandspaziergänge, bisher musste ich im Strandkorb auf sie warten.“ Mit finanzieller Hilfe seines Bruders hat er sich ein gebrauchtes Modell gekauft. „Jetzt kann ich auch im Sand fahren und auch mal auf einer Wiese oder über einen Feldweg.“

Er, der jahrelang mit Depressionen zu kämpfen hatte, sieht wieder mehr Sinn in seinem Leben. „Ich setze mir kleinste Ziele, zum Beispiel mit dem Rollstuhl bei Sonnenschein rauszufahren. Ein tolles Gefühl.“ Er versucht, den Schmerzen zu entfliehen – durch Lesen, Meditation oder durch die Beschäftigung mit Psychologie. Manchmal gelingt es ihm auch in langen Gesprächen mit seiner Frau.

So hat er, der „Vogel in Gefangenschaft“, sich über Jahrzehnte hinweg das Singen selbst beigebracht. „Heute bin ich eher ein Typ, der sein Umfeld zum Lachen bringt, es aufbaut und seelische Hilfe geben kann, ohne selbst depressiv zu sein.“

Es gibt mittlerweile Infusionen, sogenannte Bisphosphonate mit dem Wirkstoff Zoledronsäure, die eigentlich nur für Osteoporosekranke gedacht sind. Sie schützen das Skelett vor knochenabbauenden Zellen, die Knochendichte nimmt zu. Aber Bisphosphonate sind im Körper nicht abbaubar, die Behandlung hat Nebenwirkungen. Dennoch verbessern die Infusionen Sören Maiwalds Gesundheitszustand deutlich. Doch keine Pharmafirma würde, so seine Erkenntnis, die Zulassung des Medikaments für die Glasknochenkrankheit beantragen. Es lohnt sich nicht, weil es zu wenige Erkrankte gibt. So bezahlt er die Behandlung selbst beziehungsweise bekommt die Infusionen im Rahmen von Studien an der Universitätsklinik Halle. Das ging nicht einfach so, Sören Maiwald und seine Frau mussten lange dafür kämpfen. Aber das Kämpfen ist er ja gewohnt.