Nichts als die halbe Wahrheit

RADSPORT Lance Armstrong legt das erwartete und fürs TV-Publikum aufwendig inszenierte Dopinggeständnis ab. Sogar Tränen fließen. In seiner allzu berechnenden Beichte bleiben viele der sich aufdrängenden Fragen zu seinen Mitwissern und Helfern unbeantwortet

■ „Ich bin vom Totenbett aufgestanden. Ich wäre verrückt, mich zu dopen.“ (Lance Armstrong am 19. Juli 1999, dem zweiten Ruhetag der Tour de France, an deren Ende er zum ersten Mal in Paris triumphierte)

■ „Das war nicht Hollywood, das war nicht Disney. Meine Story ist fantastisch, aber wahr. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch und habe ein reines Gewissen.“ (25. Juli 1999 nach dem ersten Tour-Sieg in Paris)

■ „Es tut mir leid, dass ihr nicht an Wunder glaubt. Es gibt hier keine Geheimnisse – das ist eine harte Veranstaltung, wo harte Arbeit siegt. Vive le tour.“ (Juli 2005)

■ „Ich habe nie gedopt, ich kann das immer wieder sagen. Ich habe das schon sieben Jahre lang gesagt, aber es nützt nichts.“ (August 2005, nachdem L’Equipe meldete, in Armstrongs Urinproben von der Tour 1999 sei Epo nachgewiesen worden)

■ „Ich habe niemals gedopt. Und anders als meine vielen Ankläger habe ich 25 Jahre lang Ausdauersport betrieben ohne einen Ausreißer in meinen Leistungen. Ich habe mehr als 500 Dopingtests bestanden.“ (13. Juni 2012, aus Armstrongs Stellungnahme zur Anklage der Usada)

VON MARKUS VÖLKER

Lance Armstrong hat gesprochen. Das hat dem defizitären und zuschauerarmen Fernsehsender Oprah Winfrey Network (OWN) eine gute Quote beschert und dem ehemaligen Radstar weltweite Aufmerksamkeit. Oprah Winfrey interviewte den Texaner in dessen Heimatstadt Austin persönlich. Man hatte sich bereits Anfang der Woche in einem Hotel zur Aufzeichnung des zweieinhalbstündigen Interviews getroffen. Seitdem lief eine groß angelegte PR-Kampagne, die beiden zugute kommen sollte, der Talkmasterin und dem Sportler. OWN entschied sich, das Interview zu splitten, weil es „schade gewesen wäre, wenn so großartiges Material im Schneideraum liegen geblieben wäre“, wie Winfrey offenbarte.

Der erste Teil wurde letzte Nacht deutscher Zeit ausgestrahlt, der zweite folgt 24 Stunden später. Sie sei den Ausführungen von Armstrong „gebannt“, ja fast schon „hypnotisiert“ gefolgt, sagte Winfrey, und ja, auch Tränen seien geflossen (in Teil 2). Ein weinender Lance – wer wollte das nicht sehen? Selten wurde ein Gespräch absichtsvoller anmoderiert, selten wurde der dramaturgische Kniff des Cliffhangers derart überstrapaziert. 112 Fragen hatten Winfrey und ihr Team ausgearbeitet, vorbereitet hatte sie sich wie auf eine „Uniprüfung“, sagte sie. Es gehört natürlich zur Strategie dieser monströsen Medieninszenierung, dass im Vorfeld ein paar pikante Details an die Öffentlichkeit dringen mussten: Armstrong werde beichten, er werde Doping zugeben. Aber wie weit würde sein Geständnis gehen? Wie detailreich würde er sich offenbaren? Was müssten seine Kompagnons befürchten?

Nun, Armstrong hat in der Tat zugegeben, gedopt zu haben – mit Epo, Testosteron, Kortison und Eigenblut. Eine Überraschung, gar eine Sensation oder ein mediales Erdbeben war das gewiss nicht, denn in dem 1.000-seitigen Bericht der US-Antidopingbehörde Usada, der im vergangenen Herbst veröffentlicht worden war, steht ja schon schwarz auf weiß, wie Armstrong in seiner Karriere betrogen hat. Elf ehemalige Teamkollegen hatten gegen ihn ausgesagt. Die Beweislast war erdrückend. Armstrong konnte gar nicht mehr anders, als sich zu offenbaren, sonst wäre er wohl als der verbohrteste Dickkopf, den es jemals gegeben hat, in die Geschichte des Sports eingegangen. Aber auch für dieses logische Geständnis hat er Wochen gebraucht. Bis zuletzt hatte er gegen die Wahrheit gekämpft, Teamkollegen angeschwärzt, Druck auf Zeugen ausgeübt und seine Anwälte ins Rennen geschickt.

Bis zu diesem OWN-Interview hatte Armstrong immer abgestritten, Dopingmittel eingenommen zu haben. Er hat Journalisten ins Gesicht gelogen, er hat Fans und Sponsoren an der Nase herumgeführt, er hat 2005 unter Eid gelogen und Winfreys Fernsehkollegen Larry King im gleichen Jahr gemaßregelt: „Nein, das ist verrückt, ich habe niemals gedopt.“ Gestern sagte er: „Ich betrachte das als eine große Lüge, die ich sehr häufig wiederholt habe. Wahrscheinlich ist es für die meisten Leute zu spät, und das ist mein Fehler. Diese Episode meines Lebens ist geprägt von Respektlosigkeiten. Der Sport zahlt jetzt den Preis dafür. Das tut mir leid.“ Er habe seine Macht missbraucht, auch stehe er „nicht auf einer moralischen Plattform“, von der aus er jetzt verkünden könne, „hey, lasst uns den Radsport sauber machen“.

Er habe so lange gezögert, weil er die „Story“, sein Lügengebilde also, schlicht für „perfekt“ hielt – mit sieben Tour-de-France-Siegen, tollen Sponsoringverträgen, Kindern und der Familie. „Ich war ein Typ, der alles unter Kontrolle haben musste. Das ist nicht zu entschuldigen. Ich hatte den unbändigen Willen zu siegen. Diese Arroganz, ich kann sie nicht leugnen“, sagte Armstrong. „Ich sehe die Wut und die Enttäuschung der Leute, die mich unterstützt und mir geglaubt haben. Sie haben das Recht, sich betrogen zu fühlen. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, das Vertrauen zurückzugewinnen.“

Spricht so ein reuiger Sünder? Kann man jemandem glauben, der als der größte Betrüger in der Radsporthistorie gilt, der immer dann zu schauspielerischer Großform aufgelaufen ist, wenn es darum ging, den Leuten die Unwahrheit zu verkaufen, und der auf den Fundamenten seiner angeblichen Glaubwürdigkeit eine Stiftung aufgebaut hat? Travis Tygart, der Chef der Usada, findet, Armstrong sei einen „kleinen“ Schritt in die richtige Richtung gegangen. Armstrong habe „endlich zugegeben, dass seine Radsportkarriere aus einer kraftvollen Kombination aus Doping und Betrug“ bestanden habe. Erledigt sei die Affäre aber noch nicht. Wenn es Armstrong ernst damit sei, „seine Fehler zu korrigieren, muss er unter Eid ein vollständiges Geständnis seiner Dopingaktivitäten“ ablegen. Zu sagen gäbe es noch einiges: Welche Rolle spielte der Radsportweltverband UCI wirklich? Warum wurde er hundertfach getestet – und kam immer davon? Welche Strippen zog Armstrong im Hintergrund? All diese Dinge kamen in Armstrongs halbgarer, allzu berechnenden Beichte viel zu kurz.

„Ich betrachte das als eine große Lüge, die ich sehr häufig wiederholt habe“

LANCE ARMSTRONG BEKENNT

Der Präsident der internationalen Antidopingbehörde Wada, John Fahey, ist von Armstrongs Einlassungen enttäuscht. Fahey übte vor allem Kritik an der Aussage, durch den Dopingkonsum habe er, Armstrong, lediglich faire Voraussetzungen im Peloton geschaffen („Ohne Doping war es nicht möglich zu gewinnen“). Diese Behauptung sei „ein bequemer Weg zu rechtfertigen, was er getan hat“. Durch solche Aussagen werde Armstrong „völlig unglaubwürdig“. Der Wada-Chef zeigte sich von dem Auftritt enttäuscht. „Er hat keine Namen genannt, hat nicht verraten, wer ihn mit Dopingmitteln versorgt hatte, welche Funktionäre involviert waren“, bemängelte Fahey: „Falls er auf Erlösung aus war, war er nicht erfolgreich.“

Betsy Andreu, eine Zeugin der Usada-Anklage und Frau des ehemaligen Rennfahrers Frankie Andreu, hielt Armstrong Heuchelei vor: „Warum soll ich jemandem glauben, der immer gelogen hat?“ Betsy Andreu, die immer schon eine vehemente Gegnerin von Doping war und bereits 1996 im Zuge der Krebsbehandlung von Armstrong erfahren hatte, dass dieser dopt, gehört zu den Opfern von Armstrong. Ja, sagte der gestern zu Oprah Winfrey und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, er habe sie eine „Bitch“ genannt, für „fett“ habe er sie aber nie gehalten. Diese Episode zeigt, wie viel dreckige Wäsche aus der Ära Armstrong noch zu waschen ist.

Auch Armstrongs Antikrebsstiftung Livestrong distanzierte sich von ihrem Gründer. „Wir sind enttäuscht von der Nachricht, dass Lance Armstrong die Menschen während seiner Karriere getäuscht hat – auch uns.“ Die einstige Lance Armstrong Foundation heißt jetzt Livestrong Foundation. Markenzeichen der Organisation sind gelbe Armbänder mit der Aufschrift „Livestrong“. Beliebter sind derzeit aber Bändchen mit der Prägung „Liestrong“.