LeserInnenbriefe
:

taz.die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin

$(L:briefe@taz.de)$| $(L:www.taz.de/Zeitung)$

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor.

Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Mann aus dünnem Glas

betr.: „Schriftsteller werden – warum tut man sich das an?“, taz vom 29. 8. 15

Ich habe ihm ja gleich gesagt, dass er nicht hingehen soll. Er konnte nämlich Kritik überhaupt nicht vertragen. Und so ist es gekommen, wie es kommen musste: Ein Kritiker hat ihn narziss­tisch genannt, da ist er umgefallen und zerbrochen. Klirr!

Kritik muss sein. Kunst auch. Aber dass sie einem dabei den Mann zerbrechen, das prangere ich an. Ich habe erst mal nichts gesagt und die Scherben zusammengekehrt, in den Karton getan und ihn so mit nach Hause genommen. Obwohl er so schrecklich gebrochen war, hat er hat ja noch alles verstanden, bis zuletzt. Eine Weile habe ich dran gedacht, ihn wieder zu kleben. Das war mir aber zu geduldintensiv. Dann habe ich versucht ihn zu trösten in der Hoffnung, dass er sich wieder von selbst aufbaut.

So schlimm war es doch gar nicht, habe ich gesagt. Narzisstisch bedeutet nichts anderes als eitel, und dass du eine Profil­zirrho­­se hast, musst du ja wohl zugeben. Nimm die Kritik nicht so wichtig! Kritiker haben unterschiedliche Meinungen, wie sie unterschiedliche Nasen haben. Willst du dir etwa vorschreiben lassen, wo eine Nase anfängt und wo sie aufhört? Was du eine Nase nennen darfst und was nicht? Oder was du als Näschen, Schnüffelwärzchen, Gewürzprüferchen zu bezeichnen hast und was als Riechkolben, Gesichtserker oder in aller Bäuerlichkeit als Zinken? Darauf hat er mich beschimpft und behauptet, ich hätte keine Ahnung. Da habe ich zum ersten Mal an den Glascontainer gedacht. In der Natur überleben ja auch nur die Besten. Warum sollte das in der Kunst anders sein? Was dem Kaninchen sein Bussard, ist dem Künstler sein Kritiker. Mein Mann war eben aus zu dünnem Glas gemacht und konnte nur ganz ausgesuchte Kritik vertragen. Also mehr in Richtung Lob. Und das auch nur ganz wenig, denn wenn es zu viel war, wurde er misstrauisch und hat gedacht, man wollte was von ihm. Er hätte sich besser von der Kunst ganz und gar ferngehalten, anstatt hinterherzujammern, dass man seine dünnen Glaswände nicht berücksichtigt hat. Er hätte wissen müssen, dass einer wie er, der noch mit dem Mund geblasen worden ist, nicht zu den Panzerverglasten gehört, die aus jeder Kritik splitterfrei hervorgehen.

Ab in den Container mit dir. Und tschüss! Vielleicht seh ich dich mal wieder. Als Bettflasche oder so. DIETRICH RAUSCHTENBERGER, Schwelm

Sensible Wahrnehmungen

betr.: „Was Studenten heute alles gar nicht lustig finden“, taz vom 27. 8. 15

Auffallend, das sensible Wahrnehmungen in Zusammenhänge von psychischen Störungen und Überbehütung gestellt werden. Wer urteilt so und vor welchem Welt- und Menschenbild? Fast möchte ich mich mit aufregen „über diese Amis“. Und merke dann: Waren es vielleicht „Weicheier“, die manchen Kriegsdienst verweigerten? Waren es „Nörglerinnen“, die Gleichberechtigung voranbrachten? Sind es nicht „Sanftmütige“, denen eine wichtige Rolle zugesprochen wird? Und ich bemerke eine unglaubliche Absurdität darin, sensible Wahrnehmungen in diesen Zeiten als „catastrophizing“ abzuwerten. Scheint bedrohlich zu sein, dass Menschen wieder spüren lernen.

Wie schön, dass Jahrhunderte und Jahrzehnte nach der blutigen Eroberung und blutigen Umwälzung ganzer Kontinente und trotz Konsumismusbetäubung junge Menschen wieder fühlen: „Irgendetwas sollte hier anders sein!“ Sei es ungelenk, sei es schwer nachvollziehbar oder auch noch am Kern vorbei. Aber das kommt, was zur Heilung dieser kriegszerrissenen, ausgebeuteten und vom Klimakollaps bedrohten Welt notwendig ist: Mitgefühl. Sensibilität. Spüren: Da stimmt was nicht. Selbstwiederaneignung aus der Entfremdung. Damit Kriegstraumata mal endlich über Generationen heilen können, statt in Wiederholungszwangsschleifen des Militarismus und der Freund-Feind-Schemata zu gehen.

Bitte mehr von den Wahrnehmungen, dass es schlimmer ist, als es von der Mehrheit (noch) wahrgenommen wird. Das heilt. Und nicht entmündigen lassen durch Infantilisierung, Psychopathologisierung, Opferisierung, Verwöhnismus und Mimosisierung. Sprache geben für das, was viele schon wieder spüren und noch nicht benennen können und deshalb diffus Angst fühlen. Auch wenn man dabei angreifbar wird und „Fehler“ macht. Stellen wir mutig und kritisierbar – aber bitte auf Augenhöhe – infrage, wie wir mit uns, mit anderen und mit der Welt umgehen. Hören wir (auf) den Schrei einer fast tödlich verletzten Erde. Prima!MARIO PRIMAVESI, Oldenburg

Aus der Spur geraten

betr.: „Mitten in Europa verreckt“, taz vom 28. 8. 15

Der Wert des Lebens beginnt dort, wo die Furcht vor dem Tod ­endet. Der Lebenswille als Ausdruck existenzieller Lebensbejahung spiegelt sich in den aktuellen Flüchtlingsströmen, der Überlebenskampf in den Flüchtlingsrouten, wo die Abwägung zwischen Hoffnung auf Leben und Risiko des Scheiterns keine Option mehr ist. Die Flucht endet für 71 Menschen jäh und tragisch im Lkw, wertvolles Leben geht unwiderruflich verloren. Ein makabrer Zufall, dass der Lastwagen zuvor leblose Tiere transportierte, deren gleichsam individuelles Leben durch den milliardenfachen Tod für die preiswerte Verwertung durch uns Menschen seine Missachtung findet. Der Lkw wird zum unheilvollen Fanal einer Gesellschaft, die moralisch gewaltig aus der Spur geraten ist. HANS JÜRGEN HAUF, Nürnberg