Europäische Idee geschreddert

TAZ.FLUCHTHILFE „Europa hat sich nicht als Fortschritt, sondern als korrupter und amoralischer Rückfall realisiert“, meint Georg Seeßlen

Flüchtlinge auf der Autobahn in ­Dänemark Foto: dpa

Schwaches Bild

betr.: „Europa, die Killerin“ von Georg Seeßlen, taz vom 9. 9. 15

Vielen Dank für diesen überzeugenden Kommentar. Vor ein paar Jahren war ich noch stolz auf Europa und freute mich für die EU. Diese hatte gerade den Friedensnobelpreis gewonnen – zu Recht, wie ich damals fand, da sie Europa seit nunmehr über 60 Jahren Frieden gebracht und seit nunmehr über 20 Jahren auch den Kalten Krieg begraben hatte. Doch wie sehr wurde ich enttäuscht. Rechtspopulisten eroberten die Parlamente, die Ukraine-Krise brach aus, und mit ihr kam der Kalte Krieg zurück. Es folgten Griechenland als Dauersorgenkind und die Flüchtlinge, die aus der EU als „Friedens- und Solidarunion“ nur noch eine Illusion machten. Werte, für die die EU noch vor kurzer Zeit ausgezeichnet wurde, sind abhanden gekommen.

Der Friedensnobelpreis für die EU – wofür eigentlich?, würde man sich heute fragen. Die Bundeskanzlerin gibt ein obendrein schwaches Bild ab. Schaffte sie es in der Griechenlandkrise noch, 27 EU-Staaten auf Kurs zu trimmen, 84 Milliarden Euro für Banken lockerzumachen und das Volk der Griechen zu demütigen, schafft sie es hingegen nicht, die Flüchtlingskrise, die weit weniger Kosten verursachen dürfte, europäisch und solidarisch zu lösen. Warum bietet sie einem Rechtspopulisten Orbán, der nichts mit Werten wie Humanität und Solidarität zu tun, nicht endlich mal genauso die Stirn wie Herrn Tsipras? So wäre Euro­pa vielleicht noch zu retten, wenn die Kanzlerin hier ihre Werte von Liberalität, Freiheit und (hoffentlich) Solidarität anbringen würde.

HENNING BECKER, Berlin

Mögen sie kommen

betr.: „Europa, die Killerin“, taz vom 9. 9. 15

Wow. Alles ist gesagt. Treffend, schonungslos, mit dem nötigen analytischen Biss. Verzweifeln lässt und Angst macht, dass nicht wenigstens einige Dutzend Millionen diese Wahrheiten teilen und ihre Verursacher davonjagen, statt sich von ihnen weiter mit irgendwelchen Phrasen aus dem schier unerschöpflichen Floskelspeicher hinhalten zu lassen.

Dennoch eine kleine Ergänzung: Die den europäischen Kontinent und die europäische Idee politisch schreddern und ihre heuchlerische Flüchtlingspolitik mit humanistischen Parolen garnieren, haben durch exzessive Ausbeutung oder militärische Verwüstung die Existenzgrundlagen derjenigen vernichtet, die zu uns kommen wollen, um sich zu holen, was ihnen zweifellos zusteht. Nur ein Beispiel: Zeitgleich mit der heutigen taz veröffentlichte „German Foreign Policy“ (im Internet gucken) einen Bericht über die Vertreibung von Abermillionen Menschen in Afrika, denen von westlichen Agrarkonzernen und ihren politischen Handlangern aufgezwungene westliche Agrarstrukturen keinen Platz lassen. Mögen sie kommen und den Sturm entfachen, der nötig ist.

GÜNTER REXILIUS,

Mönchengladbach

Anmerkungen

betr.: „Europa, die Killerin“, taz vom 9. 9. 15

Herzlichen Dank für diesen klaren und treffenden Text. Ich würde dazu gerne drei Anmerkungen machen:

Die „Höllen“, die der neoliberal radikalisierte Kapitalismus derzeit in Europa anrichtet, finden wir als „Markenzeichen“ der sogenannten Globalisierung überall auf der Welt. Mit Naomi Klein kann man deshalb nur sagen, dass sie inzwischen auch diejenigen Länder erreichen, die bislang durch Kolonialismus, Sklaverei und Völkermord anderen Völkern die Hölle bereitet und davon 250 Jahre lang profitiert haben, wie eben Europa.

Der wieder aufkommende „neue“ Nationalismus wird angetrieben durch das Konzept, Länder auf „Wettbewerbsfähigkeit“ zu trimmen und sie in Konkurrenz gegeneinander zu jagen: Leitbild ist der „Homo oeconomicus“, der nur die eigenen Interessen sieht und sie dann ohne jegliche Empathie für andere Menschen und Nationen ideologisch und, wenn nötig, mit Erpressung und Gewalt durchsetzt. Wie man an den Äußerungen zu Griechenland beispielhaft sieht, werden Nazis, Rassisten und ihre Follower dadurch noch mehr animiert, die besonders für Deutschland typischen „Tugenden“ von Arbeitswut, Ordnungswahn und (Selbst-)Disziplinierung für sich zu reklamieren und gegen Griechen, Italiener, Franzosen etc. in Stellung zu bringen. Der Kapitalismus beruht – nach Max Weber auf der religiösen Überhöhung dieser „Tugenden“, für die neoliberale Ideologie sind sie wesentliche Grundlage.

Schließlich: Ricardo, der Erfinder der Freihandels-Doktrin, hat seine These vom „Wohlstand der Nationen“ durch Freihandel an die wesentliche Bedingung geknüpft, dass das Kapital ortsgebunden bleibt. Die neoliberalen „Ökonomen“ propagieren aber gerade den freien internationalen Fluss des Kapitals als wichtigstes Heiligtum und berufen sich auf ihn deshalb zu unrecht. Das „scheue Reh“ des Kapitals, das sich seitdem in der Gestalt von „Investoren“ beliebig und frei auf dem Globus bewegen kann, erzeugt deshalb seit Jahrzehnten die Abwärtsspirale von sozialen Werten und ökologischen Standards. Über die entsprechenden Abkommen wie TTIP sichern sie sich immer komfortablere Möglichkeiten, Staaten und Politik zu erpressen und die Sicherung ihrer Renditen als höchsten „Wert“ über Leben, Gesundheit, soziale und kulturelle Werte der Menschen zu stellen. Man muss deshalb nicht nur Europa neu denken, sondern solidarische, auf Kooperation statt Konkurrenz basierende pluralistische und ökologisch nachhaltige Ökonomien durchsetzen, die übrigens nicht erst erfunden werden müssen – in der taz vom vergangenen Wochenende kann man das ausführlich und vielfältig nachlesen. WOLFGANG NEEF, Berlin

Müll in den Köpfen

betr.: „Europa. Die Killerin“, taz.de vom 9. 9. 15

Das ist, im besten Sinne, ein „echter Seeßlen“. Das Problem ist darin klar beschrieben (kein Wert mehr außer dem Geld). Auch die Aufgabe ist klar benannt (ein neues Europa denken). Was fehlt, ist ein praktikabler Vorschlag für den Umgang mit dem Müll, der sich in Jahrzehnten in den Köpfen angesammelt hat, und der zum Teil auch hier in den Kommentaren deutlich wird. WOWGLI, taz.de

Zaghaft, tastend

betr.: „Europa. Die Killerin“, taz.de vom 9. 9. 15

Wir müssten dieser Tage angesichts dieser sehr bedrohlichen diskursiven Entwicklungen eine massive breit gefächerte und gleichermaßen vernetzte Initiative der Linken erleben. Aber, was spielt sich de facto ab? Eine zaghaft tastende (dennoch sehr lobenswerte) Diskussion im ND und ein gelegentlicher engagierter luzider Kommentar der Herren Seeßlen oder Walther in der taz. Von vielen anderen liest man dieser Tage gar nichts. Es gibt keine Plattform und keine anderweitigen aktionsfähigen Netzwerke. Um hierzu mal aus dem letzten Papier des ISM zu zitieren: „Es fehlt jedoch auch weiterhin eine politisch mehrheitsfähige sozialökonomische und ökologische Gesamtalternative der pluralen Linken zum neoliberalen Projekt.“ Das ist der Status quo.

FILOU SOPHIA, taz.de