Heilung Ohne die Wiederentdeckung der Weiblichkeit geht die Welt vor die Hunde, sagt die Psychologin
Alexandra Schwarz-Schilling
: „Das weibliche Prinzip ist beim Mann im Herzen“

Alexandra Schwarz-Schilling

Foto: privat

arbeitet als Psychologin in einem Seminarzentrum für Permakultur, Gemeinschaftsbildung und Friedenskultur in Brasilien. Mit dem Projekt „Living Gaia“ erforscht sie das Leben des indigenen Volkes Huni Kuin. Es geht im Projekt darum, das Wissen und die Weisheit der Kulturen im Amazonasgebiet mit dem Wissen und der Weisheit westlicher Kulturen zu verbinden und zu teilen.

Interview THORSTEN WIESMANN

taz.zum wandel: Ihr wollt im Living Gaia-Projekt mit der Natur in Dialog treten. Wie?

Alexandra Schwarz-Schilling:Dem Land, das wir in Brasilien erworben haben, stülpen wir keinen Masterplan über, sondern schauen, was die Natur da will – was wir gemeinsam wollen. Die Abtrennung von der Natur ist unsere tiefste Verletzung. Wir haben Kultur und Natur gegeneinander ausgespielt, indem wir die eine auf- und die andere abgewertet haben. Zuerst muss das Bewusstsein entstehen, was da für ein Potenzial ist, wenn wir gemeinsam mit der Natur heilen statt sie „nur“ schützen oder „reparieren“ zu wollen.

Wie soll das praktisch funktionieren?

In der weltweiten Gemeinschafts-Bewegung gibt es viele interessante technologische Entwicklungen wie die Permakultur. In der Wissenschaft wird mit Hochdruck an der Schnittstelle Technologie und Biologie gearbeitet. Wenn man da mit einer anderen Haltung rangehen und mit den natürlichen Systemen bewusst in Austausch treten würde, wer weiß, was wir dann alles entwickeln könnten. Bestimmt könnten wir den Planeten schnell heilen, wenn wir die natürliche Welt als echten Partner begreifen würden, als etwas, das wir alle zusammen sind.

Heute erscheint die materielle Überfütterung mit Konsumgütern und die Ausbeutung von Materie ebenso normal wie die Idealisierung der geistigen Welt. Aber das ist völlig schräg: Wir sind aus der Erde herausgekrabbelt, wollen uns aber mit unseren Wurzeln nicht auseinandersetzen, weil unsere Religionen uns seit Jahrtausenden erzählen, wir seien vom Himmel gefallen. Die von weisen Männern niedergeschriebenen Abhandlungen über die Hochreligionen haben Gebote und Vorschriften eingeführt, die Gehorsam und Glauben einfordern. Sie verherrlichen den Geist und kriminalisieren den Körper. Da ist kein Platz für direkte Erfahrungen. Die wieder zu ermöglichen – auch darum geht es im Living-Gaia-Projekt.

Die Trennung von Geist und Körper findet ihre Entsprechung in der Aufspaltung von Männlichem und Weiblichem. Wie können wir das ändern?

Um das Aufarbeiten unserer Kulturgeschichte kommen wir nicht herum. Im Patriarchat ist der Krieg der Vater aller Dinge. Voraussetzung für seine Durchsetzung war die Zerstörung der zuvor geltenden matrilinearen Sippenstruktur. Dabei war zunächst gar nicht beabsichtigt, das Heilige und das Erotische auseinanderzureißen. Die Sexualität als solche galt noch nicht als verwerflich, sondern es ging erst einmal nur darum, die Frau durch Einführung der Ehe davon abzuhalten, mehrere Liebhaber zu haben, um die männliche Erblinie einführen zu können. Daraus wurde im Laufe der Zeit eine regelrechte Zerstückelung des Weiblichen – zunächst politisch durchgesetzt und später religiös gerechtfertigt.

Dieser ganze Vorgang ist kollektiv immer noch vollkommen verdrängt. Solange wir ihn uns nicht bewusst machen, wiederholen wir ihn in endlosen unheilvollen Schleifen und Variationen. Frauen haben jahrhundertelang gelernt, dass ihre Sexualität böse ist. Übrig geblieben ist Scham, deshalb haben sie große Schwierigkeiten, darüber zu sprechen.

Männer haben gelernt, dass sie sich wegen ihres Begehrens schuldig machen. Deshalb haben sie Sex und Liebe entkoppelt und Frauen aufgeteilt in Aspekte: Jungfrau und Mutter einerseits, Hure andererseits. Das ist fatal, weil die Sexualität die stärkste Kraft ist, die durch uns durchfließt. Sie zu verteufeln schneidet Mann und Frau von ihrer Lebendigkeit ab.

Seit etwa hundert Jahren verändert sich das Bild der Weiblichkeit – zugleich spitzt sich die Umweltkrise immer weiter zu. Siehst du da einen Zusammenhang?

Ich sehe die Umweltkrise eher als Konsequenz des linearen Denkens und der Separation. Die Veränderung der Rolle der Frau in unserem Kulturraum ist ein Hinweis auf eine grundlegende Veränderung. Die weibliche Stimme verschafft sich ganz, ganz langsam wieder etwas mehr Gehör. Es ist ein wichtiger Schritt zu erkennen, wie sehr wir kollektiv das weibliche Prinzip entwertet haben. Das Bild von Männlichkeit hat sich über die Abgrenzung vom Weiblichen entwickelt.

Männer sind im Glauben eingezwängt, dass sie die Welt am Laufen halten müssen: Kriege führen, Märkte finden, Technologien entwickeln, Wachstum sicherstellen. Sie mussten sich und der Welt beweisen, das überlegene und bedeutsamere Geschlecht zu sein. Beim Versuch, ebenso bedeutsam zu werden, haben Frauen ihr Selbstbild dann hauptsächlich über Leistung definiert. Damit wurde das weibliche Prinzip weiter entwertet. Andere Typen von Frauen haben das weibliche Verführungsbild für sich zu nutzen gewusst und so auf sich aufmerksam gemacht. Frauen sind anpassungsfähig – und wo immer sie eine Chance für sich sahen, gingen sie mit. Deswegen werden sie auch zu Recht als Hüterinnen des Patriarchats bezeichnet.

Siehst du irgendwo Entwicklungen für ein ganzheitliches Frauenbild, das an alte Traditionen anknüpft?

Ich sehe viele Ansätze, die sich wirklich bemühen, das zerstückelte Weibliche wieder zusammenzufügen. Das meiste kommt aus dem therapeutischen Bereich, und vieles davon wird langsam salonfähig. Immer mehr Frauen zeigen, dass man die weibliche Natur nicht abschaffen muss, um jemand zu sein und eine Perspektive zu haben.

In meiner Generation gab es viele Frauen, deren Mütter Hausfrauen waren. Weil den Töchtern das als kein vielversprechender Lebensentwurf erschien, haben sie sich an Männern orientiert und häufig eine Leistungsbesessenheit entwickelt. Viele Frauen wollen sich mit Beruf und Erfolg beschäftigen und nicht mit Themen wie Weiblichkeit und Sexualität. Ich hatte eine berufstätige, erfolgreiche Mutter und konnte es mir erlauben, mich den weiblichen Themen zu widmen, ohne das Gefühl zu haben, auf der Strecke zu bleiben.

Wie würdest du das weibliche Prinzip beschreiben?

Das weibliche Prinzip ist der Rahmen, in dem sich etwas entwickeln kann. Es zieht nicht am Gras, sondern lässt es einfach entstehen. Im Körper der Frau ist das die Gebärmutter, im Körper des Mannes verkörpert sich das weibliche Prinzip im Herzraum: Es erwärmt sich langsam und hält dann lange warm. Es bietet Raum und Zeit und gibt die notwendige Energie, damit sich etwas von sich aus weiterentwickeln kann. Raum und Zeit geben ist etwas, was in unserer Gesellschaft gar nicht als Qualität wahrgenommen wird. Für mich ist die Wiederentdeckung des weiblichen Prinzips und die Auswirkung davon auf Männer und Frauen gleichbedeutend mit der Transformation. Ohne diese Änderungen wird sie schlicht nicht stattfinden. Weil wir das weibliche Prinzip so entwertet haben, kann auch das männliche Prinzip nicht in seine volle Kraft kommen. Unsere weiblichen und männlichen Pole sind nicht in Balance und daran leidet auch der Erdkörper, weil er ausgebeutet und vergewaltigt wird. Wenn sich aber beide Prinzipien verbinden, gegenseitig nähren und ins Fließen bringen, entsteht Fülle.

Was bedeutet das für Paarbeziehungen?

Wenn in der Beziehung etwas nicht stimmt, zieht die Frau sich in der Regel sexuell zurück, der Mann zieht sich emotional zurück. Damit die Männer wieder aus ihrem Herzraum agieren können, ist es wichtig, dass sie nicht so verletzt werden. Der Bumerang des Patriarchats ist der verletzte weibliche Schoss und das verletzte männliche Herz. Dadurch handeln beide aus einer Unverbundenheit heraus, die immer zu Frust führt. Der männliche Pol muss sich entladen, beim Mann sexuell und bei der Frauen über das Gefühl. Deswegen werden Männer sexuell übergriffig und Frauen emotional übergriffig. Frauen erleben oft das erste Mal ein unvoreingenommenes Annehmen ihrer Liebe, wenn sie ein Kind stillen. Männer erleben Erfüllung, wenn Sie sich in der Sexualität ganz und gar angenommen und gewollt fühlen.

Indem wir die Ekstase als Möglichkeit, sich zu spüren, tabuisiert haben, versuchen wir uns durch den anderen Pol der Ekstase, den Schmerz, intensiv zu spüren. Schmerz ist in unserer Gesellschaft nicht verpönt, Ekstase schon. Die große Herausforderung bei der gesellschaftlichen Transformation wäre: Fülle aushalten. Also Ekstase. Aber das ist viel schwieriger, als wir denken. Wir flüchten lieber in unsere Komfortzone des Leidens, das ist bekannt und sicher.