Juwel ohne Glanz

Ohne Eintritt, nicht-kommerziell und unzensiert: Die Oldenburger Kinderbuchmesse tut sich schwer mit einer positiven Selbstbeschreibung. Dabei ist sie die größte ihrer Art und mittlerweile 30 Jahre alt

von Benno Schirrmeister

Reden wir also von inneren Werten. Sie ist zwar die größte ihrer Art und in der Fachwelt eine ganz wichtige Institution, und das Thema Kinder und Lesen ist derzeit rasant politisch. Aber ihr Glamourfaktor ist gleich null, selbst wenn Günter Grass die Eröffnungsrede gehalten hat, und zwar so derart gleich null, dass die Glanzlosigkeit fast wie beabsichtigt wirkt.

Das fängt schon mit den Namen an: Kibum, das klingt ein bisschen nachschlecht-imitierter Kindersprache, der Veranstaltungsort heißt PFL. „Pfl“ hört sich an wie aus einem Ballon entweichende Luft, Pé Eff Ell könnte ein Autokennzeichen sein, beides ist falsch: Das PFL ist ein Kulturzentrum im niedersächsischen Oldenburg, ein großes Haus mit Säulen, und überm Portal steht, in Goldlettern, noch von früher, Peter Friedrich Ludwig Hospital. Kibum wiederum ist das Kurzwort für die Kinderbuch-Messe, die so fast die gesamte Jahresproduktion der einschlägigen Verlage zeigt, elf Tage lang, nur nach Altersgruppen sortiert, aber ohne weitere Vorauswahl aufgestellt in grau-lackierten Blechregalen. „Ohne Eintritt, und Verkaufszwang“, nennt Heike Jansen weitere Negativ-Definitionen „also wirklich nicht-kommerziell“.

Jansen ist seit zwei Jahren Leiterin der Stadtbibliothek, früher war sie in Gütersloh tätig. Sie trägt eine Brille, hat mittelblondes und halblanges Haar, eine unauffällige Art sich zu kleiden. Und ein Büro im zweiten Stock, wo man sich bei blassgrünem Tee unterhält, weil es im Treppenhaus vormittags doch arg laut ist, Jansen räumt das mit dem ergebenen Lächeln ein, das man aufsetzt, wenn es um die lieben Kleinen geht. Es werde „alles gezeigt, was die Verlage einschicken“, erklärt sie das Ausstellungsprinzip, „ohne Zensur“.

Ohne Zensur – das hört sich wie ein Echo an, von damals, als noch jeder programmatische Eingriff eine Attacke auf die Meinungsfreiheit an sich war. Und tatsächlich gibt es die Oldenburger Kinderbuchmesse seit 1975: zwischen der örtlichen Volkshochschule und der jungen Uni hatte es gefunkt, die Stadtverwaltung befand, das Projekt sei kulturpolitisch reizvoll und sagte Ja zu dem Juwel. Seither gibt es sie jedes Jahr, die Kibum, nahezu unverändert. Aber nicht ganz. Erstmals habe man in diesem Jahr versucht, ein Gestell zum Oberthema „Gott und die Welt“ separat zu stellen, so Koordinatorin Jansen, weil die Begleitausstellung in der Lambertikirche nach Religion, Sinn und Werten in der Kinder- und Jugendliteratur fragt. Zögerliche Anfänge von Profilbildung? Aber ein Abschied vom Alles-Zeigen-Grundsatz sieht anders aus: Neu dazu gekommen seien außerdem die Hörbücher. „Und seit den späten 1990er-Jahren gibt es eine Auswahl an Lern-CD-Roms.“ Nach der Messe wandern die Medien zum Großteil in die Sammlung der Uni-Bibliothek: Oldenburgs Forschungszentrum für Kinder- und Jugendliteratur genießt einen internationalen Ruf.

11 Uhr. Der Geräusch-Pegel einer Schulklasse sei dem eines Flughafen-Außengeländes vergleichbar, sagt man. Im großzügigen Treppenhaus des Ex-Hospitals landen gerade zwei Jumbos. Durch den Lärm hindurch aber heischen Einwortsätze Gehorsam: Die Reihenbildung, das sitzt, schon hat sich der fröhliche Pulk geteilt und paarweise aufgestellt und unterlässt das Gespräch und kann abmarschieren, treppauf der eine Trupp, in den Multimedia-Bereich, zwo, vier, sechs, acht, zehn, befehligt von einem hageren Endfünfziger, und treppab der andere, sechzehn, achtzehn, zwanzig, in den großen Saal, übers leicht angegriffene Parkett vorbei an einer eher kompakten jüngeren Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur.

Der große Saal ist das Herzstück des PFL. Er ist auch das Herzstück der Kibum: Hier wird der Oldenburger Kinderbuchpreis verliehen, hier steigen die großen Auftritte, am Sonntag ist Liedermacher Fredrik Vahle zu Gast, der Schöpfer von Anne Kaffeekanne und dem Cowboy Jim aus Texas, ohne die es keine Kindheit mehr gibt in Deutschland. Nachmittags kann es passieren, dass der ganze Boden sich spontan in ein Matratzen-Lager verwandelt: Herrliche Traumstunden mit den neu entdeckten Kleiner-Nick-Folgen. Oder mit Erika Manns neu ediertem Stoffel, der übers Meer fliegt. Oder mit der pseudo-kanadischen Kurzhosengang, die gerade den Jugendbuchpreis bekommen hat. Der Saal beherbergt, was die Verlage der Altersstufe von sechs bis zwölf Jahre zugedacht haben, also vom Lesenlernen bis zum ersten echten Schmöker, rund die Hälfte der 2.000 Medien, mittags umflort von den Ausdünstungen einer Fritteuse: In der Cafeteria gibt’s Pommes zu einem ernährungsphysiologisch bedenklichen Preis.

Bis zu 35.000 Besucher kommen nach Schätzung der Bibliotheks-Chefin während der elf Kibum-Tage, „zuverlässige Zahlen haben wir nur bei den Schüler-Gruppen, weil die sich vorher anmelden.“ Das sind im Schnitt so 7.000. Von denen schreiten momentan rund 20 mit Zetteln bewaffnete Exemplare die Buch-Reihen ab. „Da kriegen wir nachher Noten für“, weiß ein Mädchen. Ein untersetzter dunkelhaariger Knabe mit einer zart knospenden Akne baut sich vor einem der Ständer auf schnappt sich einen Band und trägt, beifallheischend, den Titel „Gänsehaut Doppelschocker 20 – Welcome in Horrorland“ vor. „Boah, Gänsehaut, klingt doch ganz gut.“ Scheint aber nicht zum pädagogischen Laufzettel zu passen. Also legt er das Buch beiseite. Das daneben heißt „Laura und der Fackelritt“, weckt aber kein Interesse. Dass schon in der Grundschule die Freude am Lesen kontinuierlich abnimmt haben jüngst im Auftrag der Stiftung Lesen die Pädagoginnen Karin Richter und Monika Plath herausgefunden. Ein Grund: „Der Unterricht geht kaum auf die Leseinteressen der Schüler ein.“

Zwischen Eingang und Bühne, auf der Kuschelkissen mit pastellfarbenen Bezügen als Lese-Inseln dienen, ragen, mitten im Raum, als sortiert gekennzeichnete Regale auf, eins mit Lesetipps der Stadtbücherei, an einem ist die Überschrift „Gott und die Welt“ angebracht, ganz wie von Jansen angekündigt. Dort wäre neben fies illustrierten Kinderbibeln in einem anonymen Packpapier-Umschlag, ein Harry Potter-Band zu finden. Aber der Leser-Fluss drängt eher an die Ränder, und nur das Cover lenkt hier den Griff zum Buch.

Schmalbändchen mit rosa Glittersternchen haben da gute Karten: Die Serie „Hier kommt Ponyfee“ verspricht „spannende Abenteuer voller Phantasie“ und trägt am vierten Messetag schon deutliche Gebrauchsspuren. „Ponyfee ist eine noch ziemlich kleine Fee von gerade sieben Komma drei Jahren“, heißt Satz eins von Nummer eins, pro Folge altert die Protagonistin um 0,1 Jahr, was wohl die Produktionsgeschwindigkeit abbildet: Drei Bände hat die Autorin bereits ausgestoßen, alle im laufenden Geschäftsjahr. Für die Zielgruppe Jung-Deppen finden sich Titel wie „Der kleine Drache Kokosnuss und der schwarze Ritter“, wobei die Namensgebung eine Mutti im karierten Sakko köstlich amüsiert. „Kokosnuss heißt der“, fordert sie Tobi, mittels heftiger Knuffe, zum Mitschmunzeln auf, „das ist doch bestimmt witzig.“

Nein, ist es nicht. Es ist vielmehr, verflucht sei die Copy-Funktion des Computers, sprachlich unterkomplex: „ ‚Onkel Ingmar fliegst du in den Urlaub?‘, fragt Kokosnuss. Onkel Ingmar packt nämlich gerade seine Flugkoffer. ‚Schön wär’s‘, brummt der große Drache. ‚Ich muss zum Wachdienst ins Reich der Ritter.‘ ‚Ins Reich der Ritter? Wo ist das denn?‘, fragt Kokosnuss neugierig.“ Man möchte es lieber nicht erfahren.

Kibum, PFL Oldenburg, Mo-Fr 8-19 Uhr, Sa und So10-19 Uhr. Bis 8. November. Programm-Infos: www.oldenburg.de/bibliothek/k03.html