Abschottung In den Hochschulen werden nur neoliberale Wachstumstheorien gelehrt. Statt mathematischer Formeln sollen auch soziale Aspekte zählen. Dafür muss sich die Wissenschaft öffnen
: Keine andere Wirtschaft ohne andere Wirtschaftstheorien

Kein Platz für kritische Theorien: Indonesische Student*innen besuchen die Börse in Jakarta Foto: Bagus Indahono/ EPA/ dpa

Von Frederick Heussner, Benjamin Streim, Felix Kersting und Lisa Großmann

Jeden Tag hören wir von steigenden und fallenden Kursen an der Börse. Sie gehören zu den täglichen Nachrichten wie der Wetterbericht. Doch was bestimmt eigentlich die Kurse? Angebot und Nachfrage? Die tatsächlichen Werte der gehandelten Aktien und Anleihen?

In den 1970er Jahren entwickelten Wirtschaftswissenschaftler ein theoretisches Modell, das die Kursverläufe beschreiben und vorhersagen sollte. Es fand rasch Anwendung an der Wall Street und anderen Börsen. Was danach geschah, ist durchaus bemerkenswert. Von dem Moment an, als ein Großteil der Börsianer dieses Modell zur Kursberechnung anwendete, kam es zu einer immer größeren Übereinstimmung der tatsächlichen und der prognostizierten Kurse. Nur Finanzkrisen lassen sich bis heute damit nicht vorhersehen.

Dabei werden Wirtschaftsmodelle nicht nur bei Börsencrashs für den Normalbürger sichtbar. Dass er tagtäglich Millionen Bürger*innen betreffen kann, zeigt sich in den Vororten Perus. Dort hat der Ökonom und Politiker Hernando de Soto in den 1990er Jahren eine Reform der Eigentumsrechte vorangetrieben, die zuvor rechtlich ungeklärte Siedlungen in Lima und anderen Städten in formalen Privatbesitz umgeformt hat. Verschiedene neoliberale Thinktanks hatten der Regierung zu der Reform geraten. Ihre Annahme: Allein Märkte und Privatbesitz könnten wirtschaftliche Entwicklung fördern. Über 1 Million Haushaltewaren betroffen. Traditionelle Gemeinschaftsstrukturen und Netzwerke der Solidarität wurden aufgelöst. Das „natürliche Experiment“ in Lima wurde von Entwicklungspolitker*innen stark rezipiert und zum Prototyp ähnlicher Programme, die seitdem – trotz oft heftigen Widerstands der lokalen Bevölkerungen und der darauf folgenden sozialen Verwerfungen – weltweit durchgesetzt werden.

Durchweg neoliberal

Die beiden Beispiele zeigen, dass wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen den globalen Alltag über Kontinente hinweg mitbestimmen. Sie stehen dabei symptomatisch für eine einseitige Entwicklung: Wirtschaftswissenschaftler*innen nur einer ökonomischen Denkschule treiben seit Jahrzehnten die Liberalisierung von Handel und Kapitalströmen, den Abbau von Sozialsystemen und Arbeiter*innenrechten oder die Privatisierung von öffentlichem Eigentum voran: Die Rede ist von der sogenannten Neoklassik.

An den mächtigen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen wie der Europäischen Zentralbank (EZB) oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wird dasselbe Dogma verbreitet wie an den meisten Universitäten: Wohlstand gleich Privateigentum und Wachstum; Effizienz und Rationalität sind demnach Normen menschlichen Handelns.

Besonders deutlich merken wir diese Dominanz an den zahlreichen Bildern und Konzepten, die schon lange Eingang in unseren Alltag und unsere Sprache gefunden haben: die „unsichtbare Hand des Marktes“, die uns glauben lässt, dass Märkte sich selbst regulieren können. Unserpersönliches „Humankapital“, das wir in der Schule und in Weiterbildungen ständig anhäufen wollen, um uns dann auf dem Arbeitsmarkt möglichst gewinnbringend anzubieten. Oder die berühmte Formel des „Bruttoinlandsprodukts“, das anhand nackter Zahlen den Erfolg oder Misserfolg von Regierungen misst.

Die Wirtschaftswissenschaften und ihre Konzepte bleiben also keineswegs im Elfenbeinturm. Nicht zuletzt durch ihre einflussreiche Rolle in Politik und Verwaltung wirken sie etwa einer sozialökologischen Transformation entgegen. Denn alternative Wirtschaftsformen, wie die solidarische Ökonomie, Commons- oder Postwachstumsökonomie, kommen dort meist gar nicht in Betracht. Stattdessen dominiert der Glaube an ein ständiges Wirtschaftswachstum. Die meisten Vertreter*innen der neoklassischen Theorie halten diese jedoch für vollkommen unpolitisch. Werturteile hätten in ihrer Disziplin nichts zu suchen, proklamieren Professor*innen in den Einführungsveranstaltungen. Es gehe allein darum, die Wirklichkeit mit mathematischen Modellen so gut wie möglich abzubilden, ohne politische Stellungnahmen.

Angeblich unpolitisch

Diese Haltung verkennt, dass auch der neoklassischen Theorie eine Vision des menschlichen Zusammenlebens zugrunde liegt: eine, in der Rationalität, Effizienz und Produktivität höchste Priorität haben und Markt und Wettbewerb zentrale Instrumente ihrer Verwirklichung sind. Statt diese Prinzipien zur Diskussion zu stellen, gelingt es Vertreter*innen des ökonomischen Mainstreams, ihre Vision als die einzig wissenschaftlich anerkannte zu verteidigen. Alternative ökonomische Vorstellungen werden ausgeschlossen.

Plurale Ökonomik

Das Netzwerk Plurale Ökonomik ist aus einer Aktion von Studierenden an der Sorbonne in Paris entstanden. Diese protestierten im Jahr 2000 gegen „autistische Wissenschaft“ und forderten Pluralismus statt neoklassischen Monotheismus in den Wirtschaftswissenschaften. Ende 2003 bildete sich auch in Deutschland ein „Arbeitskreis Postautistische Ökonomie“. Daraus entstand 2007 ein Verein, der sich 2012 in Netzwerk Plurale Ökonomik e. V. umbenannte und nun 27 Hochschulgruppen aus dem deutschsprachigen Raum vernetzt. Sie alle kritisieren die Einseitigkeit der ökonomischen Hochschul­lehre und fordern stattdessen Pluralismus und Interdisziplinarität.

Das Netzwerk und die assoziierten Hochschulgruppen organisieren eigene Vorlesungsreihen, Tagungen, Workshops und Aktionen. Mit Pluralismus meinen sie eine lebendige, intellektuell reichhaltige Auseinandersetzung mit dem Lehr- und Forschungsstoff, eine Reflexion über verschiedene Ansätze und die Wechselwirkung zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft. Im Netzwerk engagieren sich Studierende, Professor*innen, Forschende sowie eine wachsende Zahl anderer Akteur*innen. Die Bewegung wird mittlerweile global: 2014 haben sich mehr als 70 Hochschulinitiativen aus mehr als 30 Ländern zur „Internationalen Studentischen Initiative für Pluralismus in der Ökonomik – ISIPE“ zusammengeschlossen. Die Studierenden, u.a. auch aus Argentinien, Indien und Uru­guay, machten mit einem internationalen Aufruf für plurale Ökonomik von sich reden.

www.plurale-oekonomik.de;

isipe.net

Dabei kommt ihnen unser naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis zugute. Wie die Physik Gesetze der Schwerkraft entdecke, so sei esAufgabe der Wirtschaftswissenschaften, Gesetze des Marktverhaltens zu formulieren. Das hat zur Konsequenz, dass die politische Dimension der theoretischen Aussagen unter dem Deckmantel der Neutralität wissenschaftlicher Wahrheiten verschleiert wird. Alternative theoretische Ansätze und ihre Vertreter*innen – beispielsweise Postkeynesianer*innen oder Ökologische und Marxistische Ökonom*innen – müssen sich den Vorwurf der Naivität und Unwissenschaftlichkeit gefallen lassen, nur weil sie die politischen Aspekte ihrer Forschung ernst nehmen.

Eine andere Strategie, ganze Denkschulen als überholt vom wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen, ist der Verweis auf den wissenschaftlichen „Fortschritt“: So verglich vor Kurzem Monika Schnitzer, die Vorsitzende des Vereins für Sozialpolitik, des wichtigsten deutschen Ökonom*innen-Verbands, in der Süddeutschen Zeitung die ökonomische Theorie von Karl Marx mit dem Aderlass in der Medizin. Beide seien vom wissenschaftlichen Fortschritt überholt worden. Gleichsam fehle anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie oder der Politologie jener Grad an mathematischer Präzision, den die Wissenschaftlichkeit der Ökonomie mutmaßlich auszeichnet.

Der Mangel an Alternativen spiegelt sich in den Lehrplänen wider. Sie sind überwiegend auf die Neoklassik und ihre Spielarten ausgerichtet. Fächer wie Ideengeschichte oder Wissenschaftstheorie, die diese Perspektive hinterfragen könnten, werden nicht angeboten. Andere Denkschulen sucht man im Vorlesungsverzeichnis meist vergeblich. Dieses Monopol ist nicht auf die Lehre beschränkt: Die renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften wie The American Economic Review oder das Quarterly Journal of Economics drucken vor allem neoklassische Aufsätze. Da Nachwuchswissenschaftler*innen auf Publikation in diesen Zeitschriften angewiesen sind, stärken sie ungewollt die neoklassische Forschung. In den Berufungskommissionen der Unis sitzen jedenfalls weitgehend neoklassisch geschulte Professor*innen. Und welche Forscher*in setzt schon die Karriere aufs Spiel, um zur feministischen Ökonomik zu forschen?

Um aus dieser Spirale der Einseitigkeit auszubrechen, braucht es eine plurale Ökonomik (siehe Kasten). Sie würde dazu führen, dass Wirtschaftswissenschaftler*innen die Folgen der klassischen Theorien reflektieren müssten. Dann wäre es möglich, offene – ethische – Debatten über solidarisches Wohnen oder Privatisierungsprogramme zu führen. Und auch, dass manche wirtschaftspolitische Entscheidung künftig anders ausfallen würde.

Die Autor*innen sind Mitglieder des Netzwerks Plurale Ökonomik