Europa

Europa streitet über die Verteilung der Flüchtlinge. Ein Konsens ist weit. Ungarns Premier gießt Öl ins Feuer

Die Blockierer sind in der Defensive

Aufnahmequoten In Brüssel haben sich die Kräfteverhältnisse spürbar verändert, seit die Flüchtlinge nach Mitteleuropa strömen

BRÜSSEL taz | Wer bietet mehr? Erst waren es 40.000, nun sollen mindestens 100.000 oder sogar 120.000 Flüchtlinge „fair“ auf die EU-Länder verteilt werden. Dies fordern die beiden EU-Präsidenten Jean-Claude Juncker und Donald Tusk angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise in Europa. Doch woher nehmen sie diese Zahlen? Und wie realistisch ist es, die Menschen auf die 28 EU-Staaten zu verteilen?

Völlig ausgeschlossen schien das noch kurz vor der Sommerpause. Beim letzten EU-Gipfel im Juni konnten sich die Staats- und Regierungschefs nicht einmal auf eine verbindliche Lastenteilung für 40.000 Asylbewerber einigen. „Wenn das eure Idee von Europa ist, dann könnt ihr es für euch behalten“, giftete Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi angesichts des erbitterten Widerstands aus Großbritannien und Osteuropa.

Doch seither hat sich die Lage dramatisch verändert. Mittlerweile sind nicht mehr nur Italien und Griechenland mit dem Flüchtlingsproblem konfrontiert, das sie lange allein bewältigen mussten. Nun bekommen auch die Balkanländer, Ungarn, Österreich und vor allem Deutschland das ganze Ausmaß der Krise zu spüren. Damit haben sich auch in Brüssel die Kräfteverhältnisse spürbar verändert.

Deutschland und Frankreich fordern nun gemeinsam verbindliche Quoten zwischen den EU-Ländern für die Aufnahme von Flüchtlingen. Kanzlerin Angela Merkel sagte am Donnerstag bei einem Besuch in der Schweiz, sie sei sich mit dem französischen Präsidenten François Hollande einig, dass „angesichts der vielen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge innerhalb der Europäischen Union verbindliche Quoten“ notwendig seien. „Das ist ein Prinzip der Solidarität“, sagte Merkel.

Der frühere polnische Regierungschef Donald Tusk weiß nur zu gut, dass und warum sich insbesondere die Osteuropäer gegen verbindliche Aufnahmequoten sperren. Doch als EU-Ratspräsident hat Tusk die Flüchtlingskrise nun zur höchsten Priorität erklärt und als Erster die Zahl von 100.000 genannt. Demgegenüber zögert Kommissionschef Juncker immer noch. Erst am kommenden Mittwoch will sich Juncker äußern. Ob er dann 120.000 fordert oder ein ganz neues System vorschlägt, lassen seine Sprecher offen.

Klar ist, dass die Blockierer innerhalb der EU nun in der Defensive sind. Seit Kanzlerin Angela Merkel die Flüchtlingsfrage zum Lackmustest für Humanität und Solidarität in Europa erklärte, fordert sogar die britische Presse von ihren Politikern ein Umdenken. Der britische Premier David Cameron kann sich zwar auf ein „Opt-out“ aus der gemeinsamen Asylpolitik zurückziehen. Für die Osteuropäer gilt dies nicht. Wenn sie sich länger verweigern, droht ihnen ein Vertragsverletzungs-Verfahren.

Klar ist allerdings auch, dass die Mühlen in der EU langsam mahlen, viel zu langsam. Auch Tusk lässt die Dinge schleifen: Einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs hat er bisher nicht einberufen. Erst am 14. September sollen die Innenminister eine Krisensitzung abhalten. Dabei soll es bislang jedoch nicht um die Quote gehen, sondern um die Einordnung „sicherer“ Herkunftsländer und um die Einrichtung von „Hotspots“ am Mittelmeer, an denen Asylbewerber registriert werden sollen.

Gegen eine schnelle Lösung sprechen zudem praktische Probleme. So hat es die EU bisher nicht einmal geschafft, einen ersten „Hotspot“ in Griechenland einzurichten. Erst am heutigen Freitag will die EU-Kommission Athen und der griechischen Insel Kos einen Besuch abstatten. Zudem weigern sich viele Flüchtlinge, in bestimmte Länder oder Lager eingewiesen zu werden. Auf die Frage, ob man die Flüchtlinge zur Not auch mit Gewalt umverteilen würde, blieb Brüssel bisher eine Antwort schuldig. EriC Bonse