LeserInnenbriefe
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Eine andere Sorte Sozialdemokrat

betr.: „Mister Ostpolitik“ von Klaus Hillenbrand, „Der Weltversteher“ von Jan Feddersen, „Niemand konnte so kichern wie Egon Bahr“ von Bettina Gaus, taz vom 21. 8. 15

Die drei Nachrufe auf Egon Bahr habe ich mit großem Interesse gelesen. Bettina Gaus’Beitrag hat mich ergriffen, und auch was Klaus Hillenbrand und Jan Feddersen anzumerken und mitzuteilen haben, verdient die Lektüre. Einige kritische Einwände erscheinen mir dennoch wichtig:

Klaus Hillenbrand zufolge betrieb Bahr „Realpolitik, als der Begriff noch nicht erfunden war“. Das bezeugte öffentliche Leben des Begriffs begann schon 1853, als der ursprünglich demokratisch-liberale Publizist August Ludwig von Rochau seine „Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands“ publizierte. „Realpolitik“ wurde ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Schlüsselbegriff für die Billigung der Politik Bismarcks. Zweifellos gibt es Berührungspunkte zwischen Bahrs Realpolitikverständnis und dem Bismarcks, wichtiger sind die Unterschiede: Während Bismarcks Realpolitik auf die Schaffung und Stabilisierung eines autoritären, großpreußischen Reichs zielte und er dafür Mittel wie Vertragsbruch und Krieg bis 1870 forciert einsetzte, war Bahrs und Brandts Realpolitik unzweifelhaft demokratisch grundiert, Vertragstreue und äußerste Konzentration auf die Vermeidung des Krieges waren für die beiden Sozialdemokraten Voraussetzungen für das Erreichen ihrer Nah- und Fernziele.

Nach Jan Feddersen verstanden die Jusos der Zeit nach 1968 Bahrs „Wandel durch Annäherung“ als „gemeinsame Sozialismuswerdung mit der SED“. Das ist, mit Verlaub, grober Unfug. Die große Mehrheit der Jungsozialisten jener Jahre grenzte sich vielmehr durchweg klar und entschieden vom autoritären bis totalitären Staats- und Gesellschaftsmodell der SED und des gesamten selbsternannten „realen Sozialismus“ ab. Anderes wäre nach der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion und ihre Gefolgsstaaten auch kaum zu erwarten gewesen.

Ich habe es auch in Gesprächen mit Angehörigen des „Stamokap“-Lagers, das am ehesten bereit war, der DDR einige „sozialistische“ Qualitäten zugute zu halten, nie erlebt, dass jemand darauf scharf war, „die Freiheit des Westens“ preiszugeben. Wohl aber habe ich 1971 zusammen mit vier anderen Genossen meiner Juso-Gruppe erlebt, dass uns der damalige Hamburger SPD-Landesvorstand, nachdem wir in einer Diskussion mit DKP-Mitgliedern deren Sozialismusverständnis kritisch auseinandergenommen hatten, wegen „Aktionsgemeinsamkeit mit Kommunisten“ aus der Partei werfen wollte.

Heute gehört nur einer von uns noch der SPD an. Die anderen hat der wachsende und schließlich übermächtige Einfluss von „Genossen“ aus der Partei herausgeekelt, die einen Zweitwohnsitz im Enddarm des Großkapitals anstrebten und schließlich innehatten. Aber um auf Egon Bahr zurückzukommen: Zu dieser Sorte von Sozialdemokraten hat er und haben Menschen seiner Denkungsart nie gehört! JÜRGEN KASISKE, Hamburg

Schämen für Sachsen

betr.: „Wieder Gewalt vor Flüchtlingsheim“, taz.de vom 23. 8. 15

Ich schäme mich dafür, Deutsche zu sein; ich schäme mich für Sachsen und ich bin schockiert angesichts der Ereignisse in den letzten beiden Nächten in Heidenau: Mehrere Hundert Rassisten haben mehrfach versucht, die Kundgebung der Menschen, die sich für die Flüchtlinge engagieren, mit Böllern und Steinen anzugreifen. Zudem gibt es Zeugen, die gesehen haben, wie Rassisten in Heidenau Autos anhalten und kontrollieren. Es gab kaum Verhaftungen – trotz rassistischer Sprechchöre, Volksverhetzung, Aufrufen zu Gewalt, Randale, Stein- und Böllerwürfen. Die Pro-Asyl-Kundgebung wird gezwungen, den Platz zu räumen – die Straßen gehören wieder den Rassisten. Unfassbar. Sollen sich Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen wirklich wiederholen?! YVONNE WEBER, Dresden