Pillen, Jobs und Weinflaschen
: Das habe ich nicht vermisst

Zu Hause bei Fremden

von MiguelSzymanski

Ärgerlich ist eine Untertreibung. Um Medikamente für meine Tochter zu kaufen, war ich in Lissabon in sechs Apotheken. Nachdem eine hilfsbereite Apothekerin vergeblich eine Stunde herumtelefonierte, versuchte sie mir das Problem zu erklären: Viele pharmazeutische Unternehmen lieferten nicht nach Portugal, weil ausstehende Rechnungen nicht beglichen würden.

Ein befreundeter Arzt, der im öffentlichen Krankenhaus São José arbeitet, unterbreitete mir sein eigenes Insiderwissen: Die Händler hätten wohl die Produkte vorrätig, würden es aber vorziehen, sie mit besseren Margen nach Angola und in „reiche EU-Länder wie Deutschland” weiterzuverkaufen. Welcher Grund auch stimmen mag: Ich musste laufen und meine Tochter leiden.

Witzig ist dagegen eine Übertreibung. Seit Beginn meiner Ferien im Krisenland habe ich drei Jobangebote erhalten. Ein befreundeter Verleger bietet mir für eine Vollzeitstelle als Ressortleiter für Wirtschaft und Finanzen 750 Euro brutto pro Monat an. Das wären fast 30 Prozent mehr als der Durchschnittswert der neuen Arbeitsverträge in den letzten drei Jahren.

Ein Jugendfreund, jetzt Informationsdirektor beim Staatssender RTP, rief mich an: Ich solle Fernsehkommentare zur europäischen Politik übernehmen. Bezahlen könne er, sagte er mit einem gewissen Stolz, aber nur „ganz, ganz wenig”.

Zuletzt wollte mich ein früherer Kollege für die von ihm gegründete Journalistenkooperative „Tornado” gewinnen – statt zu verdienen, müsste ich allerdings mit meiner Arbeit erst meinen Genossenschaftsanteil von 15.000 Euro abzahlen.

Während ich unaufgefordert Jobangebote bekomme – wahrscheinlich weil sich meine Freunde wünschen, ich bliebe im Land, um ihr Leid zu teilen –, muss ich daran denken, dass meine Frau vor unserer Auswanderung nach Deutschland eines der derzeit erfolgreichsten portugiesischen „Unternehmen” mitbegründete: Refood. Eine gemeinnützige Nichtregierungsorganisation, die Mahlzeiten an Bedürftige austeilt.

Es fing auf unserer Straße mit drei Restaurants an. Inzwischen ist Refood eine Riesenorganisation und agiert im ganzen Land. Refood tut das, was die Aufgabe des Staates wäre: Menschen vor dem Hunger bewahren.

Eine dramatische Situation. Die meisten meiner Freunde sind arbeitslos oder schon ausgewandert. Joana und Martim versuchen seit drei Jahren, ihr Haus zu verkaufen oder zu vermieten. Ihre Geschichte habe ich in den letzten Jahren zu oft erlebt: Sie werden das Dach über dem Kopf verlieren und auf einem Schuldenberg sitzen bleiben.

Zu meiner Geburtstagsfeier neulich im Bairro Alto kamen die wenigen, die noch im Land sind. Ich, in der Rolle des wohlhabenden Gastarbeiters aus Deutschland, habe sie zu einem Glas Wein in die Garrafeira do Alfaia, meiner Lieblingsweinbar in Lissabon, eingeladen.

Tomás Ferreira ist in Genf und konnte nicht kommen.

Ana Domingues ist in Paris und Ana Matos in Amsterdam.

Cláudia ist irgendwo in England.

Paulo und Jorge sind in Macao.

João in Luxemburg.

Zé ist in Luanda.

Cristina in Brasilien.

Und so weiter.

Die portugiesische Situation wurde letzte Woche von der Financial Times als „perfekter demografischer Sturm” beschrieben, wegen der niedrigsten Geburtenrate in der EU und der Auswanderungswelle. Luísa hat mitgefeiert, sie freut sich auf Brüssel. Mein alter Freund Manuel hat mitgefeiert und wird wohl in Lissabon bleiben – er ist in psychiatrischer Behandlung.

Nach einigen Flaschen waren wir alle melancholisch angetrunken. Portugal hat den höchsten Weinkonsum Europas, deswegen bleibt es wohl auch nach den Parlamentswahlen im Oktober das schläfrige Land der sprichwörtlichen „sanften Bräuche”.