Was wir jetzt brauchen, ist kein neuer Patriotismus, wir brauchen überhaupt keinen Patriotismus
: Werte zum Drangewöhnen

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Anjes Tjarks, der Fraktionschef der Hamburger Grünen, gab dem Norddeutschen Rundfunk ein Interview, in dem er sich unter anderem zur Flüchtlingspolitik in der Stadt äußerte. Er näherte sich dem Problem von der finanziellen Seite, verständlicherweise, er sprach nebenbei von Verkehrsproblemen, die bewältigt werden müssten, wenn die Stadt Hamburg mehr Einwohner bekäme. Und dann sprach Herr Tjarks in diesem Zusammenhang, also in dem Zusammenhang mit den Flüchtlingen, von einem neuen Patriotismus, den er sich wünscht, oder den er sich vorstellt.

So, denke ich, ein ganz neuer Patriotismus? Einer, der also anders ist, als der alte Patriotismus? Und was ist der alte Patriotismus? Ist das nicht eine Art Stolz auf sein Land, auf seine Nation? Und was unterscheidet dann jetzt den Patriotismus von Herrn Tjarks von dem Patriotismus schlechthin?

Er erklärt das ungefähr so, dass in unserem Land ein paar Werte gelebt werden, auf die er stolz sei, auf die wir alle stolz sein könnten. Da gehe ich noch irgendwie mit. Ich finde es gut, dass wir eine Pressefreiheit haben, dass wir ein funktionierendes Gesundheitswesen haben, eine Sozialversicherung, ungefähre Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, ich finde das alles gut und ich wohne deshalb lieber hier als in Indien, aber bin ich deshalb stolz, Deutsche zu sein? Und wenn ich darauf stolz bin, schäme ich mich dann auch für die Beteiligung deutscher Firmen an Kriegsgeschäften? Schäme ich mich für die Politik deutscher Politiker?

Angenommen, du kommst aus einem Land, in dem es im Moment keine Pressefreiheit gibt, in dem Krieg herrscht und in denen die Menschenrechte mit den Füßen getreten werden, in denen die eigene Bevölkerung verfolgt und ermordet wird, angenommen, du flöhest vor diesen Umständen nach Deutschland. Angenommen, du säßest dann da in einer Turnhalle auf der Erde, schmutzig und erschöpft. Fühllos fast, heimatlos.

Zu Haus hast du alles zurückgelassen, was auch dir einmal etwas wert war. Dein Elternhaus. Deinen Kinderarzt. Deine Schule. Deine Straße. Deine Wiesen und deine Hügel. Deine Lehrerin. Deinen Friseur. Deine Lieblingsgerichte. Die Früchte und den Wein. Die Musik und die alten Geschichten. Alles Dinge, auf die jeder Mensch in seiner eigenen Heimat stolz sein kann. Es gibt immer und überall Menschen, die fleißig sind, einfallsreich, klug und begabt, die Großartiges schaffen, und jetzt ist da aber Krieg und alles geht kaputt. Alles, das dir am Herzen liegt, alles, auf das du stolz warst. Du bist einer, der nicht nur seine Heimat, der auch seinen Stolz auf seine Heimat zurückgelassen hat.

Und jetzt kommt Herr Tjarks und sagt dir, dass sie hier in Deutschland einen neuen Patriotismus brauchen, wegen dir, so klingt es. Du sollst wissen, dass das hier nun mal anders ist als bei euch, dass sie hier Werte vertreten, an die du dich gewöhnen musst.

Und etwas an diesen Worten gefällt mir nicht. Gefällt mir überhaupt nicht. Etwas daran ist falsch und überheblich. Unsere Werte vertreten wir sowieso. Die Gesetze gelten für alle, auch für Flüchtlinge, warum muss man daran jetzt erinnern? Warum muss man davon ausgehen, dass die Flüchtlinge falsche und/oder schlechtere Werte mit sich führen? Mag sein, dass das bei einigen so ist, mag sein, dass das auch bei einem Teil der Deutschen so ist, aber großherzig ist so eine Ansage nicht.

Was wir brauchen, denke ich, ist kein neuer Patriotismus, wir brauchen überhaupt keinen Pa­triotismus, für unsere Rechte haben wir schon Gesetze. Wir brauchen vielmehr eine neue Kultur der Auseinandersetzung, einen lebendigen Diskurs, der mit Anstand und Respekt geführt wird. Wir müssen nicht hauptsächlich Angst haben, wir müssen uns entwickeln und sogar auch verändern.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist beim Verlag Rowohlt Berlin erschienen.