„Das ist so widerlich und abstoßend, dass es einem die Sprache verschlägt“

Das bleibt von der Woche Wechselbad der Gefühle: Auf eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Nauen wird ein Anschlag verübt, und auch nahe eines Heims in Berlin brennt es, das Musikfestival „Pop-Kultur“ findet erstmals statt, ein Neonazi pinkelt in der S-Bahn eine Familie an, und die Stadt wird nach Ende der Sommerferien wieder voller

Bedroht von Wasser und Feuer

Angriff auf Flüchtlinge

Eine Turnhalle neben einem Heim in Reinickendorf brennt. Ein Anschlag?

Feuer und Wasser sind jene zwei Elemente, die das Leben von Flüchtlingen auf dem Weg nach und in Europa am stärksten bedrohen: Wahrscheinlich Hunderte, vielleicht Tausende Menschen ertrinken jeden Monat beim Versuch, das Mittelmeer in Schlauchbooten und nahezu abgewrackten Kähnen zu überqueren. Diese Gefährdung ist für die meisten Nichtgeflüchteten in Deutschland abstrakt, weil fern. Doch allein die Vorstellung, auf offener See den Naturgewalten ausgesetzt zu sein, lässt schaudern.

Anders das Feuer. Nachdem in der Nacht zu Dienstag eine geplante Flüchtlingsnotunterkunft im brandenburgischen Nauen, kurz hinter dem Berliner Autobahnring gelegen, in Flammen aufging, war das Entsetzen so groß, dass diese Worte hier es nur unzureichend wiedergeben können. Denn es war bereits am Nachmittag klar, dass das Feuer gelegt worden war; dass es sich gegen Flüchtlinge richtete. Der oder die Täter: bisher unbekannt.

Es liegt auch an dem Anschlag in Nauen, dass viele nicht an einen Unfall oder einen technischen Defekt glauben, als einen Tag nach dem Brand dort auch in einer Reinickendorfer Turnhalle, die direkt neben einem von 900 Menschen bewohnten Flüchtlingsheim liegt, Feuer ausbricht. Am Freitagnachmittag waren die Untersuchungen der Polizei zur Brandursache noch nicht abgeschlossen.

Nach dieser Woche voller schrecklicher Ereignisse dürfte jedem bewusst sein, dass Flüchtlinge in Lebensgefahr schweben – und dies sogar noch am vorläufigen Ende ihrer Flucht, in Deutschland. Die Bedrohung ist nun kein abstraktes Gefühl mehr; es ist angekommen, auch in Berlin. Bert Schulz

Urlaub, wohin das Auge blickt

Sommer in der Stadt

Ach, dieses herrlich entspannte Gefühl, weil alle tollen Ecken leer sind!

Nein, der Sommer ist in dieser Woche nicht zu Ende gegangen, bloß die Schulferien sind vorbei. Und damit dieses herrlich entspannte Gefühl, dass außer den Touristenhotspots alles leer war in der Stadt. Keine Schülerhorden im Bus, in der S-Bahn mitten im Berufsverkehr noch ein Fensterplatz. Und die, die Auto fahren, berichteten von leeren Straßen und freien Parkplätzen, wo außerhalb der Ferien nie welche zu finden sind.

In diesem entspannten Ambiente war es nicht nötig, weit weg in den Urlaub zu fahren. So unvorstellbar das an regnerisch-grauen November- und Märztagen ist: Berlin kann das Outdoorparadies schlechthin sein. Kein Großstadtmoloch, sondern eine Stadt voller Freizeitangebote für lau oder wenig Geld. Köln, Düsseldorf, Dresden: Wo haben sie einen Badesee auf dem Stadtgebiet, abgesehen von Tümpeln mit wenig vertrauen­erweckender Wasserqualität?

In Berlin braucht es nur ein S-Bahn-Ticket oder ein Rad, um Tage an Plätzen zu verbringen, die aussehen wie die Bilder, die in Reisekatalogen stets mit „Auszeit vom Alltag“ betitelt sind. Da kann man den Tag morgens in der aufgehenden Sonne am Schlachtensee beginnen, nach einer langen Schwimmrunde die Stullen und die Thermoskanne auspacken. Die Avus unterqueren, in den Grunewald hineinschlendern. Auf einer Lichtung innehalten, irgendwas von Hermann Hesse aus dem Rucksack holen. Nach einer Stunde Weg mitten im Wald wieder Wasser zum Schwimmen vor sich haben und merken, dass das der Teufelssee ist. Etwas weitergehen, die Skipiste am Teufelsberg hinauf, den Blick schweifen lassen, den nur einige Steinwürfe entfernten Freeclimbern am Kletterturm zuschauen.

Und wissen: Morgen geht es ab Grünau unterhalb der Müggelberge entlang der Dahme bis hin zur sandigen Badestelle an der Großen Krampe genauso schön weiter. Die Ferien sind zu Ende, aber Sommer ist laut Wetterbericht auch nächste Woche noch. Stefan Alberti

Berlin als Ort des Versuchs

Festival Pop-Kultur

Das Festival als popkulturelles Stadtmarketing zu schmähen, wäre zu billig

Es herrscht in diesen Wochen kein Mangel an Musikfestivals in Berlin. Doch das neue Format „Pop-Kultur“ von Mittwoch bis Freitag war jenes, das die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog und das am kritischsten beäugt wurde. Kein Wunder: Die „Pop-Kultur“ löst den jährlichen Branchentreff Berlin Music Week ab und ersetzt ihn durch ein Diskurs-, Pop- und Kunstfestival. Es wird vom Senat mit 660.000 Euro gefördert und vom senatseigenen Musicboard veranstaltet. Dafür zog man an einen neuen Ort – ins Berghain – und bespielte rund um die Berliner Clubinstitution alles, was bespielbar ist.

Es schien so, als könnten dabei viele nur verlieren: Das Musicboard etwa, das sich in den zweieinhalb Jahren seines Bestehens als Helfer der Musikszene der Stadt einen guten Ruf erarbeitet hat; auch das Berghain, das in den vergangenen Jahren den Weg vom verruchten Technoklub zum Veranstaltungsort für Avantgarde aller Art gegangen war.

Man kann nun nicht sagen, dass alle Akteure auf ganzer Linie gewonnen hätten mit der „Pop-Kultur“. Aber das Festival ist auf einem guten Weg. Als Brancentreff fällt es nahezu ganz aus, aber in der Form, wie es ihn zuletzt gab – mit den immergleichen Debatten – braucht ihn auch niemand. Trotzdem klafft nun an dieser Stelle eine Lücke. Man setzte Pop- und Musikdiskurs sowie Lesungen dagegen – mal mehr, mal weniger gelungen.

Das Wichtigste aber: Berlin als Musik- und Kunststadt wird gut abgebildet – als Ort der Kollaboration, des Versuches, des Nebeneinanders. Ein Beispiel: Während in einem Festivalraum – der Panorama-Bar – die Estin Inga Copeland Dub, Breakbeat und Bässe durch die Wände pumpt, als wäre es ein übliches Berghain-Partywochenende, spielt nebenan der Kanadier Owen Pallett ein Klassikkonzert mit Orchester. Angesichts der sorgsamen Auswahl der Künstlerinnen und Künstler, angesichts des eindrucksvollen Programms ist es zu billig, das Festival nur als offensives popkulturelles Stadtmarketing zu schmähen.

Bei einigen Kollaborationen – etwa bei jener von Berlins dunkelster Sängerin Anika und dem Elektropunker T.Raumschmiere oder bei der Lyriklesung von Balbina – blieb der Essaycharakter zwar allzu offensichtlich bestehen. Versuche können eben auch scheitern. Dieses Festival aber ist, wenn es zeitgenössische Kunst und Pop in Berlin so zusammenbringt, jeden weiteren Versuch wert. Jens Uthoff

Bericht

Nazis, verpisst euch!

Rechte pinkeln auf Kinder

Mitten in Berlin werden Menschen aufs Ekelhafteste entwürdigt

Samstagabend in der Ringbahn. Am S-Bahnhof Landsberger Allee steigen zwei Männer ein, polizeibekannte Neonazis, aber das weiß hier niemand. In der Bahn sitzt eine Frau mit zwei Kindern, auf etwa 5 und 15 Jahre alt schätzen die anderen Fahrgäste sie; die Familie habe „osteuropäisch“ ausgesehen, werden sie später sagen. Die beiden Männer fangen an zu grölen, die Familie als „Scheiß-Asylantenpack“ anzupöbeln, sie rufen „Heil Hitler!“ und zeigen den Hitlergruß. „Wir sind die Herrenrasse“, glauben sie. Dann lässt einer der beiden die Hose herunter und uriniert auf die beiden Kinder.

Das ist so widerlich, abstoßend und menschenverachtend, dass es einem die Sprache verschlägt. Mitten in Berlin werden Menschen aufs Ekelhafteste entwürdigt und degradiert. Mitten in Berlin zeigt sich, zu welch unterirdischen Taten Nazis fähig sind.

Das erinnert an die Art Nazi, der mit vollgepisster Hose 1992 in Rostock-Lichtenhagen den Hitlergruß zeigte. Der Nazi, der so dumm wie gefährlich ist, so entmenschlicht wie menschenverachtend.

Eigentlich war der natürlich nie weg: Auf vielen Brandenburger Dorffesten, bei Grillabenden in Marzahn oder Fußballspielen in Rudow gab es daran auch nie einen Zweifel. Aber die BerlinerInnen – zumindest die aus der Innenstadt; zumindest die, die nicht irgendwie migrantisch oder politisch links aussehen – konnten sich lange der Illusion hingeben, so etwas gebe es hier nicht.

Gibt es aber doch. Und die Geschichte hinterlässt Fragen: Warum rufen die Fahrgäste zwar die Polizei, greifen aber nicht selbst ein? Warum lässt die Polizei die beiden Männer, die sturzbetrunken ihre Gewalttätigkeit doch gerade erst unter Beweis gestellt hatten, noch am selben Abend wieder laufen? Warum schaltet sich der polizeiliche Staatsschutz erst am Dienstag in die Ermittlungen ein?

Ob sich auf diese Fragen noch eine Antwort finden lässt oder nicht, macht für die Familie aus der S-Bahn, die bisher nicht gefunden wurde, wohl keinen Unterschied. Sie haben etwas erlebt, das sich kaum verarbeiten lässt. Sie wurden von Menschen gedemütigt, die selbst kaum mehr die Bezeichnung Mensch verdient haben.

Mitten in Berlin.

Malene Gürgen