Berlinmusik

Juristisch irren

Latein kann auf manche Leser abschreckend wirken. Wer sich als Band Aberratio Ictus nennt, geht daher das Risiko ein, mögliche Fans im Vorfeld auszuschließen. Bei Juristen hingegen könnte der Name auf Interesse stoßen. Denn unter einer „aberratio ictus“ versteht man in der Rechtsprechung einen fehlgeleiteten Schlag. Wenn etwa jemand beabsichtigt, eine bestimmte Person zu erschießen, diese sich im entscheidenden Moment allerdings bewegt, sodass eine andere, in der Nähe stehende Person getroffen wird, ist das ein strafrechtlicher Anwendungsfall für diese Form des Irrtums. Wie ein solches Vergehen angemessen zu bestrafen sei, wird in der Rechtstheorie übrigens kontrovers diskutiert.

Das Berlin-Berner Trio Aberratio Ictus ist bisher nicht im Sinne seines Namens auffällig geworden. Sein Debütalbum heißt denn auch wie zur Beruhigung „Ictus Irritus“, handelt es sich in diesem Fall doch um einen erfolglosen Schlag. Ihre Musik dürften die Sängerin Rea Dubach, Violinistin Laura Schuler und der Gitarrist Ronny Graupe damit kaum gemeint haben. Die ist zwar ungewöhnlich und hier und da gewöhnungsbedürftig, als Schritt in musikalisches Neuland aber ein voller Erfolg.

Von Jazz zu sprechen wäre bei diesen Erkundungen auf den ersten Blick irreführend. Andererseits führt die Frage, was Jazz alles sein darf, oft zu erbitterten Debatten über den Pflichtanteil von Improvisation und anderen, nicht immer produktiven systematischen Erörterungen. Und da Jazzmusiker seit jeher die Verunreinigung mit anderen Musikrichtungen – Funk, Rock und HipHop zum Beispiel – bewusst angestrebt haben, ist die Jazzfrage auch diesmal mit Ja zu beantworten.

So wechselt Rea Dubach zwischen Gesang, Beatboxing und diversen Formen der erweiterten Vokaltechnik, während Laura Schuler auf ihrem Instrument wahlweise Folkmelodien, barocke Stimmführung und atonale Zupfeinlagen hervorbringt, meistens in direktem Dialog mit der Gitarre Ronny Graupes, die wunderbar flexibel von spröden Stakkatofiguren über sanfte Basslinien bis zu diskreten Continuo-Akkorden ein beeindruckendes Arsenal an Gesten bereithält. Nicht selten ist es dann Graupe, der bei diesen Streifzügen durch unbekannte Gefilde dafür sorgt, dass sich die Beteiligten nicht vollends verirren. Vielleicht ist der sperrige Name gar nicht so falsch gewählt. Für diese Musik braucht man Offenheit, die dann angemessen belohnt wird. Tim Caspar Boehme

Aberratio Ictus: „Ictus Irritus“ (WhyPlayJazz); 7. 9., Tiyatrom