Namenlos in den Kreissaal

In einem Neusser Krankenhaus können Frauen ihr Kind anonym gebären. Einige von ihnen wollen es in letzter Sekunde doch behalten, andere verlassen nach der Entbindung fluchtartig die Klinik

Manche Mutter legt sich das Kind auf den Bauch, andere wollen ihr Baby nicht sehen

AUS NEUSS LUTZ DEBUS

Eine junge Frau mit Kopftuch sitzt im Warteflur, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Der diensthabende Gynäkologe gibt ihr die Hand. Die Angesprochene bleibt stumm, nennt ihren Namen nicht. So war es telefonisch vereinbart. Im Behandlungszimmer fragt der Arzt nur nach medizinischen Daten: ihrem Alter, den Geburten, Risiken, Erkrankungen, dem Schwangerschaftsverlauf. Knappe Antworten. Nein, einen Mutterpass habe sie nicht. Nach Untersuchung und Ultraschall will er erfahren, warum die Frau ihren Namen nicht nennen will. „Familiäre Gründe“, sagt sie knapp. Bis zum Geburtstermin bleiben noch zwei Wochen. Der Arzt vereinbart einen weiteren Termin mit der neuen Patientin. Gern würde er ihr eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle vorstellen. Die junge Frau nickt flüchtig.

Anfang des Jahres ist das Johanna-Etienne-Krankenhaus in Neuss ungewollt in die Schlagzeilen geraten. In einer Reportage des Deutschlandfunks wurde von der Möglichkeit der anonymen Geburt in Neuss berichtet. Ein besorgter Bürger fragte bei der zuständigen Staatsanwaltschaft nach, ob denn diese Praxis mit Recht und Gesetz in Einklang stehe. Ein Ermittlungsverfahren gegen Krankenhausverwaltung, Ärzte und Jugendamt wurde eingeleitet. Erst nach Monaten wurde das Verfahren eingestellt. Es konnte niemandem der Bruch des Personenstandsgesetzes nachgewiesen werden.

Trotzdem blieb eine gewisse Unsicherheit. Eine klare gesetzliche Regelung von anonymen Geburten, wie es sie zum Beispiel in Frankreich gibt, ist in Deutschland nicht durchsetzbar. Über Fraktionsgrenzen hinweg überwiegen die Skeptiker. Schaffe man mit der Möglichkeit anonymer Geburten nicht gerade ein Schlupfloch, damit sich Mütter ihrer Verantwortung entziehen? Begünstige man damit nicht den Babyhandel? Diese Einwände überzeugen den Geschäftsführer des Johanna-Etienne-Krankenhauses, Markus Richter, nicht: „In Deutschland werden bei solchen Diskussionen immer Schreckensszenarien entworfen, die pragmatische Lösungen verhindern.“ Da bei anonymen Geburten sofort das Jugendamt eingeschaltet werde, sei die Möglichkeit, ohne den gesetzlichen Adoptionsweg ein Baby zu vermitteln, ausgeschlossen. Ob sich die betroffenen Mütter leichtfertig von ihren Neugeborenen trennen? Oberarzt Hans-Joachim Koch schüttelt verständnislos den Kopf. „Nein, die Frauen befinden sich dann in einer existenziellen Notlage.“

Beim zweiten Termin spricht die junge, werdende Mutter etwas mehr. Ihre Eltern lehnen ihren Partner ab. Das Paar habe die Hochzeit vor den Eltern geheim gehalten. Weiterhin wohne die Tochter bei ihren Eltern. Dann die Schwangerschaft, sie sei ein Betriebsunfall gewesen. Die Eltern ahnen nichts. Ihre Tochter habe ja nicht so viel zugenommen. Ihrer Mutter habe sie gesagt, dass sie sich im Krankenhaus untersuchen lasse, weil sie fürchte, Krebs zu haben. So könne sie den Eltern auch einen längeren stationären Aufenthalt erklären. Bei dem Beratungsgespräch werden der Frau verschiedene Möglichkeiten genannt. Die anonyme Geburt bleibt ein Weg, aber auch andere Wege werden aufgezeigt: Adoption mit Nennung des Namens der Mutter, eine Wohngruppe für junge Mütter, materielle Hilfen. Die Frau entscheidet sich schließlich, den Eltern die Wahrheit zu sagen. Mit einem verblüffenden Ergebnis. Der strenge Vater ist völlig begeistert Opa zu werden. Zu seiner Frau sagt er: „Dein Vater mochte mich ja auch nicht.“

Ein glücklicher Ausgang der Geschichte. Natürlich sei, so Hans-Joachim Koch, die anonyme Geburt in seinem Haus die absolute Ausnahme. Etwa 800 Geburten gebe es pro Jahr im Johanna-Etienne-Krankenhaus. Davon sei der Anteil der anonymen Geburten nur in Promille zu beziffern. Aber bei diesen Fällen habe die werdende Mutter oft nackte Existenzangst. Viele junge Frauen kommen aus anderen Kulturkreisen. Nicht nur Familien islamischen Glaubens, auch Spätaussiedler haben, so Koch, zuweilen rigide Moralvorstellungen. Aber es gebe zum Beispiel auch die alleinstehende Mutter, die mit ihren sechs Kindern nicht mehr zurecht kommt. Dann spreche manches Jugendamt die Drohung aus, dass bei einer erneuten Schwangerschaft das Sorgerecht für alle Kinder entzogen wird. Auch solche Mütter sehen in der anonymen Geburt eine letzte Rettung.

Frauen, die ihr Kind anonym zur Welt bringen wollen, haben zuvor meist die Schwangerschaft verdrängt. Erst kurz vor der Geburt machen sie sich Gedanken, wie es weitergehen soll. Immer wieder, so Koch, gebe es Fälle, in denen Frauen ihr Kind allein, ohne medizinische Hilfe und unter hygienisch völlig untragbaren Bedingungen zur Welt bringen. Tragödien, in denen dann Kind, Mutter oder beide sterben, seien zwar selten. Aber, so Koch, jede Tragödie sei eine zu viel.

Der Geburtsvorgang bei einer anonymen Entbindung unterscheide sich nicht von anderen, sagt Koch. Das schränkt er dann aber doch wieder ein. Manche Mutter lasse sich das Kind auf den Bauch legen. Andere wollen ihr Baby nicht einmal sehen. Sein Team akzeptiert in jedem Fall die Wünsche der Frauen. „Wir arbeiten nicht mit emotionalen Tricks.“ Die Entlassung aus dem Krankenhaus, so sein Eindruck, hat zuweilen schon Fluchtcharakter. Doch die meisten Frauen kommen nach sechs bis acht Wochen zur Nachuntersuchung wieder zurück. Diese könnten sie auch bei ihrem niedergelassenen Arzt machen lassen. Aber sie kommen nach Neuss. „Vielleicht müssen die Frauen dieses Kapitel ihres Lebens auf diese Weise abhaken.“